Was es bedeutet, dass in dem Land die Lichtgestalt Muhammad Yunus nun Chef der Übergangsregierung geworden ist – und die Politik ganz allgemein manchmal voller Mirakel und Mysterien ist.
Kolumne von Heribert Prantl
Es gibt eine schmale, aber hochinteressante Korrespondenz zwischen dem rechtskonservativen Schriftsteller Ernst Jünger und dem jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, die vom Jahr 1975 bis ins Jahr 1981 reicht. Sie handelt unter anderem vom Schicksal des älteren Bruders von Scholem, der einst mit Jünger in die Schule gegangen war und 1940 als führender KPD-Politiker von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Der Briefwechsel zwischen den zwei so verschiedenen alten Herren war freundlich-respektvoll im Ton und er endet mit einem wunderlichen Satz Ernst Jüngers: „Die Weltlage ist düster; vielleicht kommen wir ohne Wunder nicht aus.“
Worauf sich Jünger genau bezog, ist mir nicht bekannt. 1981 war jedenfalls ein Jahr, in dem der Kalte Krieg an Kälte zunahm, in dem ein nukleares Wettrüsten begann, der Republikaner Ronald Reagan war US-Präsident geworden; es war das Jahr, in dem die Friedensbewegung aufstand und vor dem atomaren Inferno warnte; es war das Jahr, in dem in Polen General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht ausrief, in dem auf dem Petersplatz in Rom der türkische Rechtsextremist Mehmet Ali Ağca ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte und in Ägypten ein fanatisierter Islamist den ägyptischen Friedenspräsidenten Anwar al Sadat erschoss. Die Weltlage war damals ähnlich düster wie heute. Wenn 1981 ein Leitartikler einen wie Gorbatschow als sowjetisch-russischen Präsidenten prophezeit, wenn ein Kolumnist Glasnost und Perestrojka angekündigt hätte, den Fall des Eisernen Vorhangs, die Auflösung der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands – ihm wäre geraten worden, nicht politische Analysen, sondern Fantasy-Romane zu schreiben.
Wunder in der Politik sind nicht kalkulierbar, aber es gibt sie. Sie widersprechen der Behauptung, dass alles immer schlechter wird. Wunder kommen nicht aus dem Nichts, sie kommen wie aus dem Nichts. Sie haben aber Ursachen, Beweggründe und Stimulanzien. Sie brauchen Bedingungen, sie brauchen Auslöser, die wir meist erst dann als solche erkennen, wenn die Wunder geschehen oder schon geschehen sind und man sie festzuhalten versucht.
Wunder halten nicht ewig. Sie nutzen den Riss in der kontinuierlichen Katastrophe. Dort sprühen und funkeln sie dann wie Wunderkerzen, wie Sterndlwerfer. Dann erlöschen sie, und es wird wieder finster – so es nicht gelingt, in der funkelnden Phase für Licht zu sorgen, das von Dauer ist.
Wir erleben soeben einen solchen Wunderkerzenmoment in Asien: In Bangladesch hat der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, ein visionärer Pragmatiker, die Regierung des 171-Millionen-Volkes übernommen. Es ist dies auch deswegen eine Sensation, weil dieser Mann, der als „Bankier der Armen“ berühmt geworden ist, zuvor über viele Jahre hinweg von der Vorgängerregierung der Autokratin Sheikh Hasina systematisch verleumdet, verketzert und mit Strafverfahren überzogen worden ist. Die landesweiten empörten Proteste gegen deren einschüchterndes, arrogantes und grundrechtsmissachtendes System, dem auch die Militärs des Landes zuletzt ihre Unterstützung entzogen, hatten Sheikh Hasina Anfang August in die Flucht getrieben. Bis dahin hatte Yunus fürchten müssen, seine alten Tage, der Gehässigkeit Sheikh Hasinas wegen, im Gefängnis zu verbringen. Nun steht der weltweit mit Preisen überhäufte Wirtschaftswissenschaftler an der Spitze seines Staates; er soll es in eine bessere Zukunft führen.
Die Nachricht davon, dass sein Land ihn zum Premierminister der Übergangsregierung berufen hatte, überraschte Yunus in Paris. Seit den Frühtagen der Olympia-Bewerbung war er als Berater der sozialistischen Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo tätig. Der Ruf aus der Heimat kam so überraschend, dass Yunus nicht einmal mehr Zeit hatte, zum Friseur zu gehen: Dem Flugzeug in Dhaka entstieg er mit weißer Mähne. Er hatte als Berater Hidalgos dafür gesorgt, dass bei den öffentlichen Ausschreibungen und Auftragsvergaben für Olympia Sozialunternehmen den Vorrang hatten. 500 Sozialunternehmen kamen zum Zuge, Unternehmen also, die nicht auf Gewinnmaximierung aus sind, sondern auf die Lösung sozialer oder ökologischer Probleme. Auf den Baustellen der Spiele waren die Auftragnehmer verpflichtet, mindestens zehn Prozent ihrer Arbeitskräfte aus Langzeitarbeitslosen zu rekrutieren. Von Yunus stammt auch die Anregung, das olympische Dorf so zu konzipieren, dass die Bungalows nach den Spielen als Sozialwohnungen weiter genutzt werden können. Paris war von alledem so beeindruckt, dass man im Juli einen Platz nach Yunus benannte – normalerweise darf das erst fünf Jahre nach dem Tod des Namensträgers geschehen.
Die Enkelkinder der frühen Mikrokreditnehmerinnen bevölkern heute die Hochschulen des Landes
Yunus ist bisher der einzige Ökonom, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Er hat vor Jahrzehnten mit der Gründung der Grameen-Bank („Grameen“ heißt „Dorf“ auf Bengalisch) das Finanzwesen revolutioniert. Die genossenschaftlich organisierten Dorfbanken vergeben seit 1983 Mikrokredite, zum Aufbau von Kleinunternehmen. 38 Milliarden Dollar von solchen Kleinkrediten wurden bis heute ausbezahlt, überwiegend an Frauen. Warum? „Wenn eine mittellose Mutter beginnt, ein Einkommen zu erzielen, dreht sich ihr Traum vom Erfolg um ihre Kinder, gesunde Ernährung und Bildung“, sagt Yunus. Männer hätten oft andere Prioritäten. Die Kinder und Enkelkinder seiner frühen Mikrokreditnehmerinnen bevölkern heute die Hochschulen des Landes; spezielle Bildungskredite haben es möglich gemacht. Und so wundert es nicht, dass die von Studenten angeführte Protestbewegung ausgerechnet Yunus als Chef der Übergangsregierung wollte.
Was kann er bewirken? Die Frage stellt sich nicht nur wegen seines Alters; er ist 84 und topfit. Sie stellt sich, weil er die Rolle des Interims-Regierungschefs erst einmal nur für drei Monate innehat. „Alles, was ich sehen will, ist, dass der Fluss in die richtige Richtung fließt“, hat Yunus vor vier Jahren gesagt, als er von der Zeit über seine politischen Ambitionen befragt wurde. Auch das wäre ein Wunder in einem Land, das zu den ärmsten Ländern der Erde zählt. Einer seine ersten Kommentare, als Yunus in Dhaka ankam, war: „Jetzt sind harte Arbeit und Disziplin gefragt.“ Wunder passieren eben nicht einfach so.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 15.08.2024 in der Süddeutchen Zeitung.