Wir sind nicht im Frieden mit Natur und Umwelt, wir sind nicht im Frieden mit uns selbst. Es herrscht Krieg, viel zu viel Krieg. Irrwege und Auswege.
Kolumne von Heribert Prantl
Als ich an Allerheiligen am Grab meiner Eltern stand, ging mir vielerlei durch den Kopf. Da war zum einen der Satz aus der Totenliturgie, der mich schon als Bub, als ich viele Beerdigungen zu ministrieren hatte, erschaudern ließ; er heißt: „Und nun beten wir für den aus unserer Mitte, der als Nächster dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird.“
Ich erinnerte mich daran, wie mein Ministrantenblick bei diesem Satz fragend und rätselnd von Gesicht zu Gesicht wanderte, und hörte dazu den Wechselgesang des Chores, der „In Paradisum“ heißt: „Zum Paradiese mögen Engel dich begleiten.“ Dieses Lied handelt vom Einzug der Seele des Verstorbenen ins himmlische Jerusalem und es beschreibt, wie Engel und Märtyrer den Toten dort begrüßen.
Und dabei kam mir das Wort „Fegefeuer“ in den Sinn. In der katholischen Religion ist das Fegefeuer bekanntlich die dritte Abteilung im Jenseits; es brennt in der Mitte zwischen Himmel und Hölle. Es brennt für diejenigen Menschen, die für die Hölle zu gut, aber für den Himmel noch zu schlecht sind – also für die meisten; sie werden dort für ihre Sünden bestraft. Für sie wird das Fegefeuer, lateinisch Purgatorium, zum Ort der Läuterung. Der Reformator Martin Luther, dessen 541. Geburtstag am Sonntag gefeiert wird, hat damit aufgeräumt, weil die mittelalterliche Kirche die Fegefeuerei geschäftlich genutzt hatte, um den Ablasshandel aufzuziehen. Gegen Geld, den sogenannten Ablass, konnte man angeblich die Zeit des schmerzvollen Läuterungs- und Reinigungsfeuers erheblich abkürzen: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ – so lautete der dazu passende Spruch.
Das Fegefeuer ist in der katholischen Theologie, anders als die Hölle, kein Ort der ewigen Verdammnis und Verzweiflung. Er ist ein Ort der zuversichtlichen Halbverzweiflung, weil es, bei allen Torturen, die man dort erleidet, die Gewissheit der Hoffnung gibt, dass die Qualen irgendwann enden. Das Fegefeuer, wie es die katholische Tradition beschreibt, ist aber keine Ayurveda-Kur im Jenseits, kein Retreat mit Akupunktur und Abführmittel, sondern ein beschwerlicher „Highway to Heaven“, dessen Beschwerlichkeit die Theologen einst grauslich ausgemalt haben. Das Fegefeuer war bei ihnen eine Hölle auf Zeit als Vorhof zum Paradies; es war einerseits furchtbar Furcht einflößend, andererseits verheißungsvoll.
Die Wiedergeburt des Fegefeuers
Wir erleben derzeit, darum erzähle ich das, so etwas wie die Wiedergeburt des Fegefeuers. Das Fegefeuer brennt aber heute nicht im Jenseits, sondern im Diesseits – aber jenseits einer Wirklichkeit, die auf die Illusion des Weiter-so! setzt. Wir leben in einer Zeit, in der sich mit dem Klimawandel, mit Naturkatastrophen, mit Krieg, Terror, atomaren Gefahren, mit Nationalismus und Rassismus die Hölle auf Erden ankündigt.
Das alte Fegefeuer war ein wichtiges, aber irreales Element im Weltbild und in der Lebenswirklichkeit des Mittelalters. Das neue Fegefeuer gehört zur realen Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Hitzewellen, Feuer und Dürren, Starkregen und Hochwasser zeigen an, was uns mit dem ungebremsten Klimawandel erwartet: Der Klimawandel macht Extremwetter noch extremer. All das kündigt an, dass es unheilvoll heiß wird, dass wir also in einem neuen Purgatorium angekommen sind – also in einer Welt zwischen Himmel und Hölle, bedrohlich nah an letzterer, an der Hölle. Wir sind nicht im Frieden mit der Natur, wir sind nicht im Frieden mit der Umwelt, wir sind nicht im Frieden mit uns selbst. Es herrscht Krieg, viel zu viel Krieg.
Beim alten Fegefeuer war es so, dass es nach vielen Qualen einzig und allein den Weg in den Himmel gab; der Weg aus dem Fegefeuer war also die Einbahnstraße ins Paradies. Beim neuen Fegefeuer gilt das nicht; da gibt es beides – es gibt die Aussicht auf den Himmel und die Aussicht auf die Hölle. Auch wenn die Zeichen schlecht stehen: Es ist nicht ausgemacht, dass zwangsläufig die Hölle kommt, die Hölle auf Erden.
Eine Art, Frieden zu lernen
Gewiss: Früher gesetzte Klimaziele sind schon jetzt definitiv nicht mehr erreichbar; und die Rüstungskontrollverträge sind gekündigt. Die Konsequenz kann aber nicht sein, jetzt alles laufen zu lassen, sondern zweierlei zu tun: erstens eine Politik zu entwickeln, die dem Klimawandel gewachsen ist; zweitens Städte zu bauen, Wälder und Gewächse zu pflanzen, die den Wandel lebbar machen. Zum Friedenlernen gehört es drittens auch, zu Waffenstillständen in den Kriegen zu kommen und die Rüstungskontrollverträge wieder zu aktivieren. Das gehört heute zur Läuterung, das ist Leben im Fegefeuer des 21. Jahrhunderts, das ist eine Art, Frieden zu lernen.
Die Hoffnung auf Läuterung ist heute nicht spirituell, sie ist essenziell. Demokratie ist die weltliche Institutionalisierung der Läuterung. Sie ist das Fegefeuer als Staatsform; sie ist das anhaltende Bemühen, es besser zu machen; sie ist der anhaltende Versuch der Läuterung in dem Wissen: Wenn wir müde werden, wenn wir einschlafen – dann besteht die Gefahr, dass wir in der Hölle, in der Autokratie, in der Diktatur aufwachen.
Die Kulte und ihre Jünger
An Hölle und Teufel glauben heute selbst die nicht mehr richtig, die sich Christinnen und Christen nennen; der Teufel ist für die allermeisten ein Hirngespinst. Aber das heißt nicht, dass es keine Mächte mehr gäbe, denen sich der säkulare Mensch teuflisch ausgeliefert fühlt. Die Teufeleien heute haben heute andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Extremismus, Chauvinismus, Fundamentalismus, Profitismus, Marktradikalismus, Trumpismus, Nationalismus, Militarismus, Bellizismus, Rassismus. All diese Ismen sind nicht abstrakt, sie haben Macht, sie haben Kulte, sie haben Gläubige, sie haben Messiasse, sie haben Jünger, die diese Ismen predigen und verbreiten.
Es sind dies neue Geschäftemacher mit der Angst. Diese Geschäftemacherei heute funktioniert anders als im Mittelalter, aber sie funktioniert. Die neuen Ablassverkäufer, die politischen Ablassverkäufer von heute – sie malen alles schlecht, sie verkünden den Untergang und versprechen den Himmel, wenn man ihnen in ihrem Extremismus folgt. Man darf ihnen nicht auf den Leim gehen; Leim klebt, er beflügelt nicht.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 08.11.2024 in der Süddeutchen Zeitung.