Die Koalition traut sich die vollständige Entkriminalisierung von Abtreibungen im Rahmen einer Fristenregelung nicht mehr zu. Das ist bitter, weil von einer Regierung Merz bei diesem Thema erst recht keinerlei Reformen zu erwarten wären.

Kolumne von Heribert Prantl

Frauen wurden und werden für das gerichtet, was Männer angerichtet haben. Das ist an dieser Stelle nicht biologisch, sondern juristisch gemeint. Es waren nämlich ganz überwiegend Männer, die das geltende Abtreibungsstrafrecht formuliert und in Kraft gesetzt haben. Es waren ganz überwiegend Männer, die dann am Bundesverfassungsgericht zweimal über das Recht des Schwangerschaftsabbruchs entschieden und postuliert haben, wie die Paragrafen auszusehen haben: Die Abtreibung sei grundsätzlich als Unrecht zu betrachten und müsse demgemäß rechtlich verboten bleiben. Das ist die geltende Rechtslage nach den Reformversuchen im Jahr 1974 und 1992. Die Ampelkoalition wollte das ändern: Im Koalitionsvertrag stellte sie die Weichen für eine dritte Reform und für die endgültige Entkriminalisierung. Es ist eigentlich alles dafür vorbereitet. Aber jetzt traut sich die Ampel nicht, ein Gesetz vorzulegen; es fehlen Mut, Zeit und Geschick. Das ist bitter: Die CDU-geführte Regierung eines Kanzlers Merz wird sich einem gesetzlich festgelegten Recht auf Abtreibung wohl verweigern.

Es waren ganz überwiegend Männer, die am obersten Gericht in Karlsruhe die „Rechtspflicht, ein Kind auszutragen“ formuliert haben, zuletzt im Jahr 1993. Sie haben rechtsverbindlich festgestellt: Selbst dann, wenn ein Abbruch innerhalb einer bestimmten Frist (in den ersten zwölf Wochen) und unter bestimmten Voraussetzungen (vorherige verpflichtende Beratung) straflos bleibt – rechtswidrig ist dieser Abbruch trotzdem. Und weil er rechtswidrig ist, wird er von der Krankenkasse nicht bezahlt; eine Beratung auf Krankenschein gibt es daher nicht. Es waren auch männliche Verfassungsrichter, die in ihrem letzten einschlägigen Urteil den Ablauf einer Konfliktberatung für die schwangere Frau so vorgeschrieben haben, als handele es sich um eine Art Feuerwehrversammlung, deren Ablauf man per Tagesordnung exakt festlegen kann.

Ganz wenige Themen haben eine so lange Haltbarkeitsdauer wie der Schwangerschaftsabbruch: Seit jeher waren es überwiegend Männer, die die Disziplinierung und Stigmatisierung der schwangeren Frau als effektiven Lebensschutz und als probate Hilfe für das ungeborene Leben ausgegeben haben. Die Frauen spielten bei diesen Erwägungen immer nur eine untergeordnete Rolle – gerade so, als wären sie nur Mittel zum Zweck der Menschwerdung, als wären sie nur körperliche Hülle und Brutmaschine für den Fötus, um ihn neun Monate lang in ihrem Inneren zu versorgen und dann auf die Welt zu bringen. Es waren und sind die Hierarchen der katholischen Kirche, die nach wie vor bei der Abtreibung von „Mord“ reden und Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, als Mörderinnen bezeichnen; seit 1869 ist das so, seit Papst Pius IX. und seinem Dogma von der „Simultanbeseelung“ vom Zeitpunkt der Empfängnis an. Die evangelische Kirche, in der auch Frauen das Sagen haben, ist da, jedenfalls in Deutschland, weniger fundamentalistisch.

Nach der ersten Reform im Jahr 1974, nach der zweiten Reform im Jahr 1992, die beide vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen wurden, wollte die Ampel nun eine dritte Reform wagen, um die endgültige Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zu erreichen. Im Koalitionsvertrag vereinbarten SPD, FDP und Grüne die Einsetzung einer Kommission zur Reform des Abtreibungsrechts. Frankreich hat mittlerweile das Recht der Frau, sich ohne Zwang für eine Schwangerschaft oder deren Abbruch zu entscheiden, sogar in seiner Verfassung aufgenommen. So forsch war die interdisziplinär besetzte deutsche Kommission nicht. In ihrem Abschlussbericht vom April 2023 schlug sie aber erstens einen sehr weitgehenden Abschied vom Strafrecht vor, zweitens den Ausbau der freiwilligen Beratung und den Ausbau der Unterstützung von Schwangeren; drittens die Übernahme der Kosten des Abbruchs durch die Krankenkassen; es sei dabei sicherzustellen, dass Frauen den Abbruch zeitnah und barrierefrei in gut erreichbaren Einrichtungen vornehmen lassen können.

26 Verbände legten einen Gesetzesvorschlag vor. Doch die Ampel funzelt nur noch

Das Motto „Hilfe statt Strafe“ soll, muss also demzufolge künftig mehr sein als ein schöner Spruch. Es geht um eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ohne Strafrecht. Die Ampelregierung hat die Empfehlungen mit höflichem Dank entgegengenommen; aber dann hat das männliche Dreigestirn an der Spitze von den Schwierigkeiten gesprochen, eine haltbare Lösung für diese „hochsensible Materie“ zu finden, und erklärt, darüber weiter nachzudenken. Das war’s anscheinend. Indes: Nachdenken muss man allein über die Frage, ob es ohne Weiteres möglich sein soll, einen lebensfähigen Fötus abzutreiben, weil der möglicherweise behindert zur Welt kommt. Es kann nicht gewünscht sein, von Geburt an behinderte Menschen quasi auszusortieren und aus unserer Lebenswelt verschwinden zu lassen. Aber auch darüber wird in Regierung und Parlament nicht diskutiert. Es wird gar nichts diskutiert.

Nun haben 26 Verbände (darunter Pro Familia, der Deutsche Juristinnenbund, Verdi, der Deutsche Frauenrat und die Evangelischen Frauen in Deutschland) einen Gesetzesvorschlag von drei Juristinnen vorgelegt, der den Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. Woche legalisieren will, und zwar ohne Beratungspflicht.

Die Regierung rührt sich nicht. Das von Männern dominierte Parlament rührt sich auch nicht. Aus Furcht vor den Kirchen? Deren Einfluss hat sehr abgenommen. Aus Furcht vor den Wählern? Drei Viertel aller Befragten sprechen sich in Umfragen für eine Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs aus. Aus Furcht vor dem Bundesverfassungsgericht? Dort haben mittlerweile deutlich mehr Richterinnen Einzug gehalten, im Zweiten Senat herrscht sogar Parität. Bei den 218-Urteilen, in denen das Gericht 1975 und 1993 liberale Paragrafen zu Fall brachte, waren die zwei Senate noch jeweils mit sieben Männern und einer Frau besetzt. Es hat sich also einiges geändert. Es könnte sich auch im Recht des Schwangerschaftsabbruchs Entscheidendes ändern. Es ändert sich aber nichts, weil die Ampel nicht mehr blinkt, sondern nur noch funzelt.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 30.10.2024 in der Süddeutchen Zeitung.