Vor achtzig Jahren wurde der Pfarrer von den Nazis umgebracht. Seine Opposition gegen deren Tyrannei gehört zu den guten Mächten der deutschen Geschichte. Und nun versuchen AfD oder Evangelikale, den Hitler-Gegner für sich zu nutzen.
Kolumne von Heribert Prantl
Es war kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes, kurz vor der bedingungslosen Kapitulation, kurz vor der Befreiung von der Tyrannei; es war vier Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor achtzig Jahren wurde Pastor Dietrich Bonhoeffer im oberpfälzischen Konzentrationslager Flossenbürg ermordet, zusammen mit anderen Widerständlern des 20. Juli 1944, darunter Admiral Wilhelm Canaris. Die Todesurteile wurden in einem Scheinverfahren verhängt, das selbst nach NS-Gesetzen rechtswidrig war. Die Verurteilten wurden noch zusätzlich gedemütigt: Sie mussten sich nackt ausziehen, nackt zum Galgen gehen und wurden dort an Drahtschlingen aufgehängt. (Sechs Stunden dauerte die Hinrichtung, da die bis zur Ohnmacht Strangulierten wiederbelebt wurden, um ihr Leiden zu verlängern.) Am selben Tag, am 9. April 1945, wurde der Widerstandskämpfer Ewald von Kleist-Schmenzin in Berlin-Plötzensee guillotiniert. Am selben Tag, am 9. April 1945, wurde auch der Schreiner Georg Elser, der „Sonderhäftling des Führers“, im Konzentrationslager Dachau ermordet – nach fünf Jahren Haft, ohne Verfahren und Urteil. Er hatte 1939 im Münchner Bürgerbräukeller das nur knapp gescheiterte Bombenattentat auf Hitler und die NS-Führungsschicht ausgeführt.
Für den Widerstand gegen den Jahrtausendverbrecher Hitler und sein Regime stehen Menschen aus allen Schichten und politischen Gruppen, für diesen Widerstand stehen aristokratische, sozialistische, konservative, kommunistische und christliche Namen, für diesen Widerstand stehen Offiziere und Adelige wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Ewald von Kleist, Arbeiter wie Georg Elser und Geistliche wie Dietrich Bonhoeffer. Sie waren, sie sind Märtyrer für ein besseres Deutschland. Für den pazifistisch orientierten evangelischen Theologen Bonhoeffer war es angesichts der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten christlich und konsequent, den Weg in den Widerstand zu gehen und den Umsturz zu planen: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Gemeinsam war dem Widerstand gegen Hitler die Ablehnung von Rassenwahn und Menschenverachtung. Und die Tragik des Widerstands bestand darin, dass ihre Kräfte und Akteure der unterschiedlichen Lager, Weltanschauungen, Parteien und Gruppierungen nicht oder zu spät zueinanderfanden – oft erst in den Mordlagern der Nazis.
Es gehört zu den Perversitäten des Rechtsextremismus von heute, dass ausgerechnet er sich auf den Widerstand des 20. Juli, dass ausgerechnet er sich auf Bonhoeffer beruft, um damit seine Attacken gegen den liberalen Rechtsstaat zu begründen. Es gehört zu den Abnormitäten des Evangelikalismus in den USA, dass er Bonhoeffer mitten im letzten US-Wahlkampf in einem Kinofilm zu einem kämpfenden Helden für Trump stilisierte, ihm eine Waffe in die Hand drückte und ihn sagen ließ: „Der Kampf gegen die Tyrannei beginnt jetzt“ – um damit den Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol zu rechtfertigen. Kulturkämpfer gegen die „linken Eliten“ und alles was „woke“ sei, berufen sich auf Bonhoeffer. Rechtsextremes Widerstandspathos wird religiös aufgeladen, inklusive der Anschläge auf Abtreibungskliniken – und dann mit einem Zitat aus dem Bonhoeffer-Steinbruch für fromme Sprüche gerechtfertigt.
Der Widerstand der Radikalen ist Unverstand
Es ist dies der massive Versuch einer feindlichen Übernahme des Gedenkens. Die antidemokratischen Anhänger der Autokratie – die AfDler in Deutschland ebenso wie die Trumpisten in den USA – reden über die rechtsstaatliche Demokratie verächtlich als das „System“. In den Netzwerken der AfD wird behauptet, die anderen Parteien seien die Basis einer zu stürzenden, volksverräterischen Herrscherclique. In Deutschland berufen sich ausgerechnet Rechtsextremisten auf das Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4 Grundgesetz, der eine Verbeugung vor den Widerständlern gegen Hitler darstellt und der Mahnung und Appell ist, die Grund- und Menschenrechte zu schützen und zu verteidigen: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Von den Extremisten wird der Gehalt dieses Widerstands verdreht, verfälscht und ins Gegenteil verkehrt – er wird nämlich von den Grund- und Menschenrechten isoliert, für die der Widerstand gegen Hitler gekämpft hat und die zu der Ordnung gehören, die gemäß Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz verteidigt werden soll. Das ist eine Verhöhnung des Angedenkens an den Widerstand gegen Hitler; das ist kriminelle Erbschleicherei.
Radikale und Extremisten füllen den Begriff Widerstand mit nationalistischem Gebräu und mit rassistischem Gerede; sie missbrauchen ihn, um autokratische, diktatorische und despotische Herrschaftsstile zu propagieren und zu rechtfertigen. Ihr Widerstand ist nicht Widerstand, sondern Unverstand. Der US-Präsident Donald Trump ist für sie ein Exempel: Er trampelt auf den rechtsstaatlichen und emanzipatorischen Idealen der Vereinigten Staaten herum. Er unterstellt der Justiz, wenn sie nicht so agiert, wie er es will, dass sie so rechtsvergessen agiere, wie er das tut. Trump ist ein Präsident, der das System der „Checks and Balances“ sprengt. Die Ambition von Trump ist es, diese Balance aufzuheben. Trump zerstört die verfasste Politik – und die Frage lautet, wie eine demokratische Wehrhaftigkeit ausschauen muss, die sich dagegen wehrt. Es ist ein Skandalon, dass im KZ Flossenbürg immer noch eine Bonhoeffer-Gedenktafel hängt, die Richard Grenell, Trumps damaliger US-Botschafter in Deutschland, 2019 dort angebracht hat; gewidmet und gezeichnet vom damaligen und heutigen US-Präsidenten.
Im Widerstandsartikel des Grundgesetzes streckt die Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen, dass es diesen großen Widerstand braucht; im Widerstandsartikel steckt die Mahnung zum kleinen Widerstand, zum Protest, zur Zivilcourage: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Und: Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen. So lautet diese Mahnung zum kleinen Widerstand im Alltag. Es fragt sich freilich, ob dieser kleine Widerstand ausreicht, wenn sich der Extremismus immer weiter aufbläht, wenn der Autokratismus despotische Züge annimmt. Dann braucht es mehr als den kleinen Widerstand, dann braucht es den mittleren Widerstand. In Deutschland gehört zu diesem mittleren Widerstand der Verbotsantrag gegen die AfD, wie er im Grundgesetz, in Artikel 21 Absatz 2, vorgesehen ist.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 03.04.2025 in der Süddeutchen Zeitung.