Am Dienstag verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über das Wahlgesetz der Ampel. Wichtige Teile davon sind eklatant verfassungswidrig.

Kolumne von Heribert Prantl

Wenn die Erkenntnis des Philosophen richtig ist, dann entscheidet das Bundesverfassungsgericht in wenigen Tagen über das Heil der deutschen Demokratie. Der Philosoph heißt Ortega y Gasset; seine Erkenntnis ist bald hundert Jahre alt, sie stammt aus seinem Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“, und sie lautet so: „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus sie auch immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht.“ Wenn man das übel beleumundete Wort „Heil“ durch „Wohlergehen“ ersetzt, stimmt der Satz. Das höchste deutsche Gericht entscheidet am 30. Juli darüber, ob das Bundeswahlgesetz von 2023 vor dem Grundgesetz Bestand hat; auf der Basis dieses Wahlgesetzes soll 2025 der neue Bundestag gewählt werden. Es ist nicht zu erwarten, dass das ohne vorherige Änderungen geschehen kann und geschehen darf; Einzelheiten dieses Gesetzes sind nämlich eklatant verfassungswidrig.

Nun könnte eine Partei in den Wahlkreisen siegen – aber den Bundestag verpassen

Das neue Wahlgesetz hat zwar ein gutes, wichtiges und richtiges Ziel, das es auch erreicht: Es verhindert, dass der Bundestag immer größer wird – dem statt der vorgesehenen 598 derzeit 734 Abgeordnete angehören. Schuld an dieser Größe sind die Überhang- und Ausgleichsmandate, die dadurch entstehen, dass eine Partei mit den Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Um dadurch das Wahlergebnis nicht zu verzerren, erhielten die anderen Parteien Ausgleichsmandate. Dieser Aufblähmechanismus wird im neuen Gesetz abgeschafft; die Größe des Bundestags soll verlässlich auf 630 Sitze begrenzt werden. Das gute Ziel aber wird erreicht mit schlechten Paragrafen, die das Grundvertrauen in den Parlamentarismus zerstören: Es kann mit dem neuen Gesetz passieren, dass eine Partei zahlreiche Direktmandate gewinnt, aber trotzdem nicht in den Bundestag kommt.

Das neue Gesetz behält die Fünf-Prozent-Hürde bei: Nur wenn eine Partei diese Hürde auf Bundesebene überspringt, kommt sie in den Bundestag und kriegt nach dem Verhältniswahlrecht Parlamentssitze zugeteilt – ein echtes Problem für die bayerische CSU. Vor dem Risiko, nicht in den Bundestag zu kommen, bewahrte sie aber bisher die Grundmandatsklausel: Danach kommt eine Partei auch dann in den Bundestag, wenn sie mithilfe der Erststimmen drei Direktmandate gewinnt. Diese Klausel wird vom neuen Wahlgesetz abgeschafft – und fliegt der CSU und der Linken um die Ohren. Die CSU kommt auch dann nicht mehr in den Bundestag, wenn sie fast alle Direktmandate in Bayern gewinnt, aber deutschlandweit nicht über die Fünf-Prozent-Hürde springt. Und die Linken, die schon bisher knapp unter der Hürde lagen, aber drei Direktmandate errangen, wären auch nicht mehr im Bundestag vertreten.

Den direkt gewählten Abgeordneten streckt das neue Gesetz die Zunge heraus

Das bedeutet: Die ohnehin spärlichen Elemente einer Persönlichkeitswahl im deutschen Wahlrecht werden noch spärlicher. Das personalisierte Verhältniswahlrecht wird entpersonalisiert. Den direkt gewählten Abgeordneten streckt das neue Gesetz die Zunge heraus. Sie haben gesiegt, aber nichts gewonnen. Das widerspricht dem Geist der Demokratie, das verhöhnt jedwede parlamentarische Tradition. Das kann so nicht bleiben. Das Bundesverfassungsgericht muss also entweder die Fünf-Prozent Hürde auf vier oder drei Prozent senken – oder es muss eine Grundmandatsklausel beibehalten. Es geht auch beides. Jahrzehntelang wurde behauptet, kleine Parteien im Bundestag gefährdeten die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Das zieht nicht mehr. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments wird durch die derzeit große AfD gefährdet. Kleine Parteien im Bundestag könnten neue Mobilität ins parlamentarische System bringen.

Die CSU hat jahrzehntelang eine gute Reform des Wahlrechts blockiert, weil sie Nachteile für sich befürchtete. Man könnte das neue Wahlgesetz als gerechte Strafe für die Blockaden betrachten. Aber: So kann und darf Demokratie nicht funktionieren. Das Schicksal des Wahlrechts zeigt seit Langem, wohin es führt, wenn die Parteien via Parlament in eigener Sache Gesetze machen: Es fällt schon auf, dass das neue Wahlgesetz, das die Ampel durchgesetzt hat, zwei Oppositionsparteien – CSU und Linke – am meisten benachteiligt. Ist es gut, wenn das Parlament Gesetzgeber in eigener Sache ist? Die Frage stellt sich beim Wahlgesetz; sie stellt sich bei allen Änderungen, die das Verfahren der Kandidatenauslese, den Mandatserwerb und den Abgeordnetenstatus betreffen, sie stellt sich bei der Parteienfinanzierung. Ein alter römischer Rechtsgrundsatz lautet, dass niemand Richter in eigener Sache sein soll: „Nemo judex in sua causa.“ Dieses Verbot der Vermischung von Person und Amt, dieses Gebot der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gehört heute zum Kern der Rechtskultur. Es gilt nicht nur für die Justiz, sondern auch für die Verwaltung. Muss das nicht auch für die Legislative gelten? Es ist nicht gut, wenn der Gesetzgeber zum Gesetzgeber in eigener Sache wird – und dann nur das Bundesverfassungsgericht das Schlimmste verhindern kann.

Es braucht hierfür eine andere Instanz. Ein Vorschlag dafür liegt vor

Wer aber soll die Gesetze machen, wenn der Gesetzgeber befangen ist? Das Grundgesetz bietet für dieses Problem keine Lösung. Es geht aber um die Integrität und Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie. Der verstorbene Staatsrechtsprofessor Hans-Peter Schneider hat schon vor mehr als dreißig Jahren vorgeschlagen, eine unabhängige außerparlamentarische Instanz einzurichten, deren Aufgabe darin besteht, „zu sämtlichen Gegenständen parlamentarischen Eigeninteresses von sich aus öffentlich Stellung zu nehmen, Lösungsvorschläge auszuarbeiten, Gutachten zu erstatten, dem Parlament Initiativen zu empfehlen und nicht zuletzt über seine Tätigkeit jährlich Bericht zu erstatten“. Ein solcher, wie er vorschlug, neunköpfiger „Parlamentssenat“ könnte – von möglichst allen Verfassungsorganen des Bundes – mit vier ehemaligen Abgeordneten, mit zwei Wissenschaftlern und zwei früheren Verfassungsrichtern besetzt werden. Der Bundespräsident müsste einen neutralen Vorsitzenden berufen.

Das ist ein kluger Vorschlag. Der Gesetzgeber bleibt zwar auch dann Gesetzgeber – aber er macht das Gesetz auf der Basis der Vorschläge eines über Zweifel erhabenen überparteilichen Gremiums. Man könnte dieses Gremium im Grundgesetz verankern. Es wäre eine Maßnahme zur Stärkung des Vertrauens in die parlamentarische Demokratie.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 25.07.2024 in der Süddeutchen Zeitung.