Von der AfD geht eine existenzielle Bedrohung aus. Demokraten müssen sich mit Hilfe des Rechts wehren, sie müssen mutig streiten und dürfen nicht in die innere Emigration gehen.
Kolumne von Heribert Prantl
Die häufigsten Vergiftungen sind die Medikamentenvergiftung, die Alkoholvergiftung, die Kohlenmonoxidvergiftung und die Lebensmittelvergiftung. Die gefährlichste Vergiftung ist mit dieser Aufzählung noch nicht genannt: Am gefährlichsten ist die politische Vergiftung; sie bedroht nicht nur das Leben Einzelner, sie bedroht die ganze Gesellschaft. Wie das funktioniert, welche Symptome und welche Auswirkungen das hat, das lässt sich derzeit beängstigend in den USA beobachten: Wir erleben die Selbstvergiftung einer Demokratie. Europa hat damit schon einschlägige Erfahrungen: aktuell und drastisch in Ungarn, zuletzt in Polen unter der Regierung der PiS-Partei.
In Deutschland begann die schleichende Vergiftung mit den Wahlerfolgen der AfD; die sogenannte „Alternative für Deutschland“ wurde 2013 als nationalbürgerliche Kümmererpartei gegründet, hat sich rasant in eine radikal-völkische Partei verwandelt und ist dabei immer größer und erfolgreicher geworden. Sie sitzt heute in fast allen deutschen Parlamenten. Bei der Wahl des neuen Bundestags am 23. Februar ist es wahrscheinlich, dass sie sich dort als zweitstärkste Partei etabliert. Es besteht die Gefahr, dass dann in den anderen Parteien der Druck wächst, mit dieser AfD „zumindest“ zu reden – um deren Wähler „nicht in eine Ecke“ zu stellen, wie es ein früherer sächsischer Minister und CDU-Fraktionschef in einem offenen Brief im Herbst 2024 gefordert hat. Es besteht auch die Gefahr, dass die Idee immer mehr Anhänger gewinnt, die AfD zu „entzaubern“, indem man ihr Einfluss auf politische Entscheidungen zugesteht, sie auch da und dort regieren lässt. Und es besteht die Gefahr, dass der Widerstand in der Gesellschaft gegen die AfD nachlässt und die Verteidiger des liberalen Rechtsstaats und der offenen Gesellschaft sich in einer Art innerer Emigration zurückziehen.
Die Wahlwerbung aus den USA wirkt wie Sporen eines Giftpilzes
In Thüringen, Brandenburg und Sachsen haben die demokratischen Parteien nach den jüngsten Landtagswahlen solchen Überlegungen kräftig widerstanden und in komplizierten Verhandlungen zu demokratischen Bündnissen gefunden. Und Friedrich Merz, der CDU-Chef, hat klargemacht, dass er jegliche Kooperationsversuche mit der AfD kategorisch ablehnt. Das ist gut und richtig so. Aber ob das noch gelten wird, wenn die neue US-Regierung die AfD-Werbung des Trump-Finanziers und Trump-Freundes Musk fortsetzt? Die Äußerungen des US-Milliardärs lösen zwar Empörung aus, wirken aber womöglich wie die Sporen eines Giftpilzes. Musk schreibt, die AfD sei der „letzte Funke Hoffnung“. Das klingt, als habe er sich das vom Wahlplakat der NSDAP aus dem Jahr 1932 abgeschaut; damals hieß es: „Unsere letzte Hoffnung: Hitler“.
Wie schnell aus Gedankenspielen Ernst werden kann, hat sich erstmals vor fünf Jahren gezeigt: Damals wurde im thüringischen Landtag der Freidemokrat Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP zum Ministerpräsidenten gewählt – um auf diese Weise die damalige Koalition aus Linkspartei, SPD und Grünen zu übertölpeln, die als Minderheitsregierung im Amt bleiben wollte. Kemmerich trat dann zwar aufgrund des öffentlichen Aufschreis und des Protests der Parteiführungen von CDU und FDP nach ein paar Tagen zurück. Aber der Sündenfall blieb und bleibt ein Sündenfall. Der Journalist Hans-Ulrich Jörges hat die Gedankenspiele, die AfD doch einfach mal machen zu lassen, in seinem in Kürze erscheinenden Roman exzessiv und erbarmungslos fortgesponnen. Das Buch heißt: „Der Kobaltkanzler“, im Untertitel: „Ein deutscher Albtraum“. Es handelt davon, dass die AfD bei einer Bundestagswahl stärkste Partei wird und der CDU-Chef sich zu einer Koalition entschließt, um sich trotz seiner Niederlage an der Macht zu halten. Der Roman ist ein leicht zu entschlüsselnder Schlüsselroman, eine schaurige Aufreihung und giftige Deklination von Schlimmheiten und Unfassbarkeiten – die bis dahin gehen, dass ein AfD-Minister dazu aufruft, die Stolpersteine aus den Gehwegen zu reißen, die dort an die Verfolgung der Juden durch die Nazis erinnern. Das geschieht dann auch. Die Ex-Kanzlerin erklärt daraufhin in einer Fernsehbotschaft, dass dies nicht mehr ihr Land sei, dass sie Deutschland verlasse und nach New York ins Exil gehe. Diese Passage wurde offensichtlich vor der US-Wahl geschrieben, in der Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Vorgestellt wird der Roman am 13. Januar in Berlin – ausgerechnet vom stellvertretenden FDP-Chef Wolfgang Kubicki, ausgerechnet von dem Mann also, der vor fünf Jahren Thomas Kemmerich zur Wahl zum Ministerpräsidenten gratuliert hat.
Es ist allerhöchste Zeit für einen Verbotsantrag gegen die AfD
Bei dem Buch handelt es sich um einen radikal-romanesken Sensibilisierungsversuch für die Gefahren, die von der Höcke-Partei drohen. Björn Höcke, der rechtsextreme Fraktionschef der tiefbraunen AfD in Thüringen, hat ja tatsächlich die Erinnerungskultur als „mies und lächerlich“ beschimpft. Und trotz der Träume dieses Mannes von einem tausendjährigen Reich und trotz seiner anhaltenden Werbung für ein umfangreiches „Remigrationsprojekt“, bei dem sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden“, hat sich noch keine Landesregierung, keine Bundesregierung und kein Bundestag bereitgefunden, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag nach Artikel 18 Grundgesetz zu stellen, um Höcke so die Wählbarkeit zu entziehen. Es wäre dies der kleine, der personifizierte Verbotsantrag. Es ist allerhöchste Zeit dafür; vielleicht ist es schon zu spät. Es ist auch allerhöchste Zeit für den großen Verbotsantrag gegen die gesamte AfD. Das wäre nicht Wahlkampf; es wird ja einigermaßen lange dauern, bis in Karlsruhe über diesen Antrag entschieden wird. Es ist dies aber das im Grundgesetz seit 75 Jahren ausdrücklich vorgesehene Wagnis zur Entgiftung der Gesellschaft. Wann, wenn nicht jetzt?
Der Verbotsantrag könnte und sollte das Finale des zwanzigsten deutschen Bundestages bilden. Er muss gestellt werden auch dann, wenn man damit viele Wählerinnen und Wähler verärgert. Er muss gestellt werden, weil es eine Pflicht der Demokraten gibt, die Demokratie im Notfall mit den in der Verfassung vorgesehenen Mitteln zu verteidigen. Der Notfall liegt vor.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 02.01.2025 in der Süddeutchen Zeitung.