Manchmal mache ich um die Bücher, die in den Feuilletons gefeiert werden, erst einmal einen großen Bogen. Vielleicht hat das mit einer alten Messdiener-Weisheit zu tun, die da lautet: „Zu viel Weihrauch schwärzt den Heiligen“. Bei Saša Stanišić, dem deutsch-bosnischen Schriftsteller, wäre diese Vorsicht nicht nötig gewesen. Sein Buch „Herkunft“ ist vor fünf Jahren, im Jahr 2019, im Verlag Luchterhand erschienen, dem Hardcover folgten eine Fülle von Preisen und die Taschenbuchausgabe bei btb – und bei mir, aus welchen Gründen auch immer, eine längere Liegezeit des Buches im Regal. Ich habe mich so fünf Jahre lang um ein großes Vergnügen gebracht.

„Herkunft“ ist ein Mosaik-Buch, ein literarisches Wimmelbild, eine fiktionale Autobiographie. Stanišić erzählt in vielen kleinen Geschichten davon, wie unser Geburtsort, unsere Eltern und Großeltern, die Zeitgeschichte, die Schulfreunde und Nachbarn Spuren und Eindrücke in uns hinterlassen. Sein Vater war Serbe, seine Mutter aus einer bosniakisch-muslimischen Familie: „Ich war ein Kind des Vielvölkerstaates, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.“ Stanišić erzählt wie beiläufig, manchmal blitzt in nur einem Satz etwas auf von den Schmerzen, den Freuden und den Verwirrungen des Lebens. „Herkunft“ ist ein Buch über Abschied und Ankunft – ein Buch über den Abschied von seiner dementen Großmutter, die die Erinnerung an ihre Heimat verliert, und ein Buch über seine Ankunft in Deutschland, wo er bei der Ausländerbehörde einen handgeschriebenen Lebenslauf einzureichen hat. Stanišić schreibt und verwirft und verwirft und schreibt – und dieser kreativen Mühsal für die Behörde ist wohl das fabelhafte Buch „Herkunft“ zu verdanken.

Das neueste Buch von Stanišić, ein Band mit Erzählungen, heißt „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ und ist 2024 im Luchterhand-Verlag erschienen. Diesmal werde ich mit der Lektüre nicht so lange warten wie bei der „Herkunft“.

Saša Stanišić: Herkunft. Das Buch ist 2020 bei btb als Taschenbuch erschienen, hat 368 Seiten und kostet 12 Euro.