Warum ein Wiener Journalist und Lehrer seinen Suizid öffentlich ankündigt, publiziert und vorab ausführlich kommentiert hat. Von der Kunst des Abschieds.

Es gibt den sanften Tod und den qualvollen, den friedlichen und den bitteren, den schnellen und den langsamen Tod, es gibt den wohlbedachten und den jähen, völlig unvorbereiteten Tod. Der Wiener Journalist und Lehrer Niki Glattauer hat ihn sehr sorgfältig vorbereitet, mit Assistenz der österreichischen „Gesellschaft für ein humanes Lebensende“. Glattauer war 66 Jahre alt und unheilbar krebskrank: Er hat daher den Tod gewählt, den man „begleiteten Suizid“ nennt. Seine letzten Worte waren: „Schön. Wow!“ So jedenfalls hat es sein Bruder, der österreichische Schriftsteller Daniel Glattauer, erzählt. „Wir haben“, so sagte er der österreichischen Nachrichtenagentur APA, „im Kreis der Familie einen schönen letzten Abend miteinander verbracht. Wir haben Karten gespielt, gegessen, getrunken, gelacht und geweint.“ Am Donnerstagmorgen sei Niki dann daheim „friedlich, entspannt, ohne Ängste und ohne Schmerzen vor unseren Augen eingeschlafen“.

Niki Glattauer hat das so gemacht, wie es das österreichische Sterbeverfügungsgesetz vom 1. Januar 2022 ermöglicht und regelt. Seit diesem Datum ist es in Österreich dauerhaft schwer- oder unheilbar kranken volljährigen Personen gestattet, eine sogenannte notarielle Sterbeverfügung zu beantragen. Der Antrag muss von zwei Ärzten oder Ärztinnen nach intensiver Untersuchung gebilligt werden. Ein paar Tage vor seinem Suizid hat Glattauer das selbst so geschildert: „Ärzte stellten fest, ob ich wirklich sterbenskrank bin … Das ging ganz unbürokratisch, ganz schnell, ganz angenehm. Zwei Ärzte waren da. Ein Intensivmediziner, der auch Palliativmediziner ist, hat mich aufgeklärt, die Diagnose des Spitals studiert und dann gemeint, in meinem Fall brauch’ ich nicht einmal die drei Monate warten, die normalerweise Frist sind, bevor man so was machen kann. In meinem Fall könne man die Frist auf zwei Wochen reduzieren, weil ich in einem sehr fortgeschrittenen Stadium Krebs habe …. Und am Ende hat mir ein Notar bescheinigt, dass ich das alles ernst meine, dass kein Druck dahinter ist …“. Am Morgen des von ihm ausgewählten Sterbetages, es war der 4. September, kamen dann eine Ärztin und eine Krankenschwester in die Wiener Wohnung Glattauers und haben ihm die tödliche Infusion gelegt. Starten musste er sie selbst.

Glattauers Tod ging ein großes Interview voraus

Dieser Suizid hat in Österreich ungeheures Aufsehen erregt – nicht deswegen, weil Glattauer das praktiziert hat, was das Gesetz erlaubt; sondern deswegen, wie er das Erlaubte praktiziert hat: Glattauer hat seinen Tod quasi inseriert, er hat ihn plakatiert, ihn vorab kommentiert – dies alles in einem großen Interview, das die Wochenzeitung Falter zwei Tage vor dem Tod als Covergeschichte publizierte, das Digital-Portal Newsflix einen Tag vor dem Exitus. Die Chefredakteure Florian Klenk und Christian Nusser waren die Interviewer. Glattauer wollte, so sagte er in diesem Gespräch, Bilanz ziehen „über sein Leben als Journalist, Autor, Vater und Lehrer“ und vor allem dem „Thema würdiges Sterben die nötige Aufmerksamkeit“ verschaffen – und mitteilen, „dass man für einen assistierten Suizid gar nicht mehr in die Schweiz fahren muss, sondern dass man das auch in Österreich machen kann“.

Man kann das auch in Deutschland machen – obwohl ein Gesetz dafür noch nicht existiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil vom Aschermittwoch 2020 jedwede Beihilfe zum Suizid erlaubt, auch die bis dahin verbotene geschäftsmäßige Beihilfe. Karlsruhe gab dem Menschen ein umfassendes Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben und den selbstbestimmten Tod. Dem Bundestag lagen im Juli 2023 zwei überfraktionelle Gesetzentwürfe vor, die auf der Basis dieses Urteils die Details regeln wollten; beide scheiterten, man konnte sich auf die genauen Regeln nicht einigen – trotz der Übereinstimmung darin, dass das Recht einen Menschen nicht zum ewigen Leiden verdammen darf. Solange es kein Gesetz gibt mit den genauen gesetzlichen Regeln, bleibt es dabei, dass nach dem Suizid die Kriminalpolizei hinzugezogen werden muss, die den Leichnam beschlagnahmt, bis er von der Staatsanwaltschaft freigegeben wird, weil assistierte Suizide als nicht natürliche Todesursache gelten.

Es gibt ein Recht zum Leben, aber keine Pflicht; und schon gar nicht gibt es eine Pflicht des Sterbenden, am Ende seines Lebens der Gesundheitsindustrie als Objekt zur Verfügung zu stehen. Es gilt, die ars moriendi, die Kunst des Sterbens, wieder zu lernen. Ist die öffentliche Inszenierung des eigenen Todes, wie das Niki Glattauer gemacht hat, ein Beitrag zu diesem Lernen der Sterbekunst? Das Mittelalter hat sie in geistlichen Traktaten gelehrt: Man gab dem Schwerstkranken das Sterbebüchlein mit den berühmten elf Kupferstichen in die Hand, als Rüstzeug für die letzten Stunden. Der „gute Tod“ war also der, auf den sich der Mensch gut vorbereiten konnte. War das große Interview Glattauers ein modernes Sterbehilfe-Traktat? Lockt es zum Nachdenken, lockt es zur Diskussion – oder lockt es den Voyeurismus? Der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer, der sich intensiv mit dem Alter und dem Sterben befasst, spricht davon, dass „der Gedanke an den Tod wie ein Eisklumpen in uns“ sei. Ist Glattauers öffentlich inszeniertes Sterben ein Beitrag zum Auftauen des Eises?

Zum würdigen Sterben gehört Intimität

Mir selber war es freilich beim Lesen des Sterbeinterviews kalt. Ich habe gefroren, trotz aller Neugier – weil ich mir vorstellte, was eine solche Werbeveranstaltung für den assistierten Suizid auslösen kann: einen internetgestützten Überbietungswettbewerb bei der Präsentation des eigenen Todes, sozusagen seine Triumphisierung – mit Liveübertragung vom Sterben und letzten Statements zu den Themen der Welt, die dann mit dem Tod des Welterklärers enden. Das wäre das Gegenteil des würdigen Sterbens, zu dem auch Intimität gehört.

„In Ruhe sterben“ hat der Altersforscher Gronemeyer eines seiner Bücher genannt. Niki Glattauer ist laut gestorben – weil er die fürsorgliche Zuwendung in den Kliniken und Palliativstationen vermisste und sie im eigenen Zuhause finden wollte. Man darf seinen lauten Suizid als Aufforderung an die Medizin und Gesundheitswesen verstehen, endlich in die Schule des Sterbens zu gehen.

Anmerkung der Redaktion: Die Berichterstattung über Suizide gestalten wir bewusst zurückhaltend. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 11.09.2025 in der Süddeutschen Zeitung.