Das schockierende an James Baldwins fulminantem Essay „Kein Name bleibt ihm weit und breit“: Seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1972 hat er von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Baldwin war damals in den USA ein berühmter Autor, eine zugleich verehrte und geschmähte Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Zeitzeugen sind häufig fragwürdige Zeugen, ihre scheinbar objektiven Berichte Manifestationen trüber Subjektivität. Baldwin aber weist im Essay – halb Autobiografie, halb Kommentar zur politischen Lage – den Verdacht, ein objektiver Zeuge zu sein, von Anfang an zurück. Sein Blick ist entschieden subjektiv. Der Afroamerikaner Baldwin erlebt den alltäglichen Rassismus, der Homosexuelle Baldwin die sexuelle Diskriminierung. Der Schriftsteller Baldwin, der mit Martin Luther King und Malcom X befreundet war, hat seine Wut und seine Trauer, sein Entsetzen und seine Hoffnung in Romanen und Essays unvergleichlich zur Sprache gebracht. Einzigartig ist seine Empathie. Sie macht Baldwins Werk zurecht für den Pianisten Igor Levit zu einer „Sprach-, Verständnis- und Lebensschule“.

Baldwin wurde vor 100 Jahren, am 2. August 1924 in Harlem (New York City) in ärmlichen Verhältnissen geboren. Er hatte das Glück und das Unglück, Zeitzeuge in den USA der 50er- und 60er-Jahre zu sein, in denen die Sprache der Gewalt, vor allem der rassistischen Gewalt, die Gesellschaft beherrschte und an der sie zu zerbrechen drohte. Er schreibt über die Hoffnung nach dem Marsch auf Washington im August 1963, bei dem Martin Luther King gerufen hatte: „I have a dream!“ Und er schreibt über die zerstörte Hoffnung nach Kings Ermordung: „Ich wollte nicht um Martin weinen; Tränen waren vergeblich. Vielleicht hatte ich auch Angst, und damit war ich bestimmt nicht allein, nicht aufhören zu können, wenn ich einmal anfing. Wir hatten so viel zu beweinen, wenn wir einmal weinten – so viele von uns, so früh zu Fall gebracht.“

King und der 1965 ermordete Malcom X. waren die Stimmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und Baldwin klagte, er schreibe immer zwischen Attentaten. Dabei hatte er natürlich den Rassismus in den USA im Blick, das machte ihn zum Essayisten. Aber stets hatte er auch eine Vision vor Augen. Und das macht ihn zum großen Romancier: „Ein Mensch stellt sich nicht leichtfertig gegen die eigene Gesellschaft, viel lieber wäre er unter seinen Landsleuten zuhause, als von ihnen verhöhnt und verachtet zu werden. Und auf einer Ebene ist der Hohn der Menschen, sogar ihr Hass, berührend, weil er so blind ist.“

Bei seinem Tod im Dezember 1987 war Baldwin weithin vergessen. Seit einigen Jahren aber ist eine Baldwin-Renaissance in Gang. Eine Ursache war die Black Lives Matter-Bewegung, die die Aufmerksamkeit wieder auf das Werk Baldwins lenkte, eine andere Raoul Pecks großartige Doku „I Am Not Your Negro“. Das große Interesse, das seine Bücher seit Jahren in Deutschland finden, lässt sich auch mit ihrer Neuausgabe bei dtv in der ebenso klugen wie einfühlsamen Übersetzung von Miriam Mandelkow erklären. Wer Baldwins Essays und Romane liest, ist für alle Zeit vor der Dummheit des Rassismus gefeit. Darum sei den Rassisten in der AfD dieser Baldwin besonders ans Herz gelegt – wie in den USA auch Donald Trump und seinen Gesinnungsgenossen. Wer ihnen zuhört, versteht Baldwins Hoffnung: „Die Party des Westens ist vorbei, und die Sonne der Weißen ist untergegangen. Basta.“

James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, München 2024, 271 Seiten, 22 Euro.