Ich bin erst auf Seite 120, das ist ein gutes Drittel des Buches, zählt man die Seiten mit den Fußnoten nicht mit. Trotzdem nehme ich mir heraus, es Ihnen schon zu empfehlen, aus aktuellem Anlass: Timothy Snyder, „Über Freiheit.“ Snyder, Professor für Geschichte an der Yale University, hat 2014 vorausgesagt, dass Russland in die Ukraine einmarschieren würde. 2020 hat er prognostiziert, dass Trump einen Staatsstreich versuchen würde. „Ich habe einfach nur genau zugehört, was er sagte“, erklärt Snyder seine scheinbar prophetische Gabe lakonisch. Seine Hellhörigkeit und -sichtigkeit hat aber nicht allein mit seinem scharfen Gehör zu tun, sondern auch damit, wie er Freiheit versteht und praktiziert.
„Den Amerikanern wird beigebracht, dass uns die Freiheit durch unsere Gründerväter, unseren Nationalcharakter oder unsere kapitalistische Wirtschaft gegeben ist. Nichts davon stimmt. Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. (…) In dem Moment, in dem wir glauben, dass Freiheit gegeben ist, ist sie weg.“ Dieses Credo über die Freiheit dekliniert Snyder dann durch, philosophisch, biografisch, sozio-politisch, bisweilen auch aktivistisch und durchgängig sehr persönlich. Er betrachtet es als ein fatales Missverständnis zu glauben, Freiheit sei vor allem die Abwesenheit oder Beseitigung von etwas, von Zwang, von Hindernissen, von Verboten, gar die Abwesenheit von Regierung und Staat.
Freiheit ist etwas Positives. Sie ist nicht angeboren, sondern wird erlernt in einem Generationenprojekt. Sie ist unberechenbar und sie ist leiblich, weil sie im Einsatz des eigenen Körpers real wird. Ein Beispiel dafür ist in Snyders Augen die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten Selenskij, das Land nicht zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Es kann die höchste Form von Freiheit sein, an einem entscheidenden Punkt nicht anders zu können als so und so zu handeln, weil man wahrhaftig bleiben will.
Es ist dieses Buch eine entschiedene Abfuhr an den Zynismus, der Tyrannei und Unrecht als normal hinnimmt. „Wenn wir akzeptieren, dass ‚alles Scheiße‘ ist, wenn nichts besser ist als irgendetwas anderes, gibt es keine Grundlage für souveräne Entscheidungen und wir bekommen keine Übung im Aufbau eines Selbst, keinen Zugang zu einer spontanen Welt, in der das, was gut ist, einer anderen Logik folgt als das, was da ist. Wir werden vor uns hingrummeln und unseren Platz im System akzeptieren.“
Das werden wir nicht, nachdem wir das Buch gelesen haben, darum sollten wir es kommenden Dienstag und Mittwoch in Reichweite liegen haben.
Timothy Snyder: Über Freiheit. Das Buch ist kürzlich im Beck-Verlag erschienen. Es hat 420 Seiten und kostet 29,90 Euro.