Die CDU/CSU-Fraktion sollte den Anstand haben, ein Prüfverfahren in Karlsruhe zu ermöglichen. Es wäre für sie auch ein Moment der Selbstermahnung, der Selbstbindung und der Zuversicht.

Friedrich Merz wird die Diskussionen über die Brandmauer noch viele Male für beendet erklären; aber sie werden nicht beendet sein. Sie werden die CDU weiter verfolgen bis zur Landtagswahl am 8. März in Baden-Württemberg und zur Landtagswahl am 22. März in Rheinland-Pfalz – und dann weit darüber hinaus. Jeder Stadtratsbeschluss irgendwo in Deutschland, bei dem CDU und AfD gemeinsam stimmen, wird Anlass sein, über den Zustand der Brandmauer zu räsonieren. Die Diskussionen werden anschwellen vor und nach der Wahl am 6. September in Sachsen-Anhalt. Und sie werden auch dann nicht leiser, sondern noch lauter werden, weil am 20. September in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin gewählt wird.

Diese Diskussionen werden der AfD nicht schaden und der CDU nichts nutzen. Im Gegenteil: Sie sind eine Dauerwerbekampagne für die AfD, weil sie den Wählern vorgaukeln, diese AfD sei doch eine irgendwie konservative Partei, es könnte also vielleicht doch eine rechtskonservative Schnittmenge der beiden Parteien geben. Das ist hochgefährlich, weil so der Rechtsextremismus der AfD entdämonisiert und marginalisiert wird.

Der CDU-Chef und Kanzler, der die Brandmauer einerseits heftig verteidigt, gibt andererseits immer wieder Anlass, dass sie heftig infrage gestellt wird. Das erste Mal war das so am 28. Januar 2025, noch in der Endzeit der Regierung Scholz: Damals stimmte der Bundestag über einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab, der eine massive Verschärfung der Migrationspolitik forderte; er war vom damaligen Unionsfraktionschef Merz eingebracht worden im Wissen, dass er nur mit Zustimmung der AfD Erfolg haben würde. So war es dann auch. Ein zweiter einschlägiger Anlauf war zwei Tage später der Gesetzentwurf zu einem „Zustrombegrenzungsgesetz“. Auch da kalkulierte der heutige Kanzler mit der Zustimmung der AfD, zumindest nahm er sie billigend in Kauf. Der Gesetzentwurf erhielt nur deswegen keine Mehrheit, weil Abgeordnete der FDP und der eigenen Unionsfraktion nicht zustimmten.

Es führt eine Linie von diesen Projekten hin zu den aktuellen, unbedachten Redereien des Kanzlers über ein angeblich „problematisches Stadtbild“. Es kann der Eindruck entstehen, Menschen mit Migrationsgeschichte seien Merz ein Ärgernis. Wenn dann wegen schwarz-blauer Themenidentität, wegen der Synchronisierung der politischen Sprache und ihres offenkundigen populistischen Konkurrierens eine gewisse Affinität zwischen CDU/CSU und AfD konstatiert wird, ist das kein ganz bösartiger Schluss. Es ist aber dies ein Schluss, der für die Union böse enden kann. Die Erfahrungen aus vielen EU-Ländern zeigen nämlich, dass Mitte-rechts-Parteien sich zerlegen, wenn sie Problembeschreibungen von Rechtsaußen übernehmen. Es kann bei aller Anti-AfD-Rhetorik von Merz & Co. der Eindruck entstehen, die Brandmauer-Debatten seien nur eine Phase im politischen Suchen und Finden der Union – in Wahrheit finde eine Art Anverwandlung statt.

Der CDU/CSU muss es gelingen, diesen Eindruck vehement, nachhaltig und dauerhaft zu widerlegen. Sie muss zeigen, dass es ihr ernst ist mit der Verteidigung der Demokratie. Die Union muss daher bei den Verbotsanträgen gegen die AfD mitwirken, sie muss also das Karlsruher Prüfverfahren ermöglichen – ohne das Plazet der CDU und ihres Vorsitzenden wird es weder einen Antrag der Bundesregierung noch des Bundestags oder des Bundesrats geben. Jedes dieser Verfassungsorgane ist für sich antragsberechtigt. An der Spitze der Union wird viel von der Brandmauer geredet, aber wenig vom Feuer. Es ist ein fressendes Feuer. Es frisst die Menschenwürde, es frisst die Sicherheit der Menschen im Recht, es frisst die Zivilgesellschaft, es frisst die Befreiung vom Nationalsozialismus.

Das Prüfverfahren ist nichts Unanständiges

Ein Verbotsantrag gehört zu den Versuchen, das Schadfeuer zu löschen. Die Union lehnt diesen Versuch bisher ab, weil sie, wie sie sagt, die AfD nicht zu einem Opfer machen wolle. Ist es besser, wenn die Menschen, gegen die die AfD hetzt, zum Opfer werden? Die existenzielle Angst vor einer AfD-Regierung erfasst immer weitere Teile der Bevölkerung. Der Kanzler erklärt, die rechtlichen Hürden für ein Verbotsverfahren seien „sehr, sehr hoch“, er habe deshalb „wenig Sympathie dafür, mit einem solchen Instrument zu arbeiten“. Indes: Das Risiko, nichts zu tun und von Bekämpfung nur zu reden, ist größer und gefährlicher als das Risiko, im Verbotsverfahren zu scheitern.

Dieses Prüfverfahren ist nichts Unanständiges. Es ist der sichtbare Ausdruck des rechtsstaatlichen Widerstands gegen völkische Kraftmeierei und gegen alles, was sich damit verbindet. Ein Verbotsantrag, an dem die CDU/CSU mitwirkt, wäre auch Ausdruck einer Selbstbindung der Union – die rechtsverbindliche Erklärung, dass die Union mit der AfD nichts verbindet und nichts verbinden wird; und dass man sich von den Personen löst, die für eine solche Verbindung werben. Ein von der Union getragener Verbotsantrag wäre also sowohl eine Selbstermahnung als auch ein Akt der Zuversicht. Diese Zuversicht richtet sich darauf, dass das höchste Gericht gegebenenfalls die Kraft hat, ein Verbot so zu begründen, dass es Nachdenklichkeit und Selbstbesinnung bei AfD-Sympathisanten bewirkt. Die Zuversicht richtet sich aber auch darauf, dass Karlsruhe die Gabe hat, ein Nichtverbot gegebenenfalls so verkünden, dass es nicht als Reinwaschung der AfD verstanden wird.

Ein Verbotsverfahren zu riskieren, ist ein überlebenswichtiges Experiment

Die AfD wird bei Einleitung eines Verbotsverfahrens höhnen, es widerspreche dem demokratischen Prinzip der Volksherrschaft. Das stimmt nicht. Die Staatsform, in der wir leben, heißt „konstitutionelle Demokratie“ – und das meint: Herrschaft des Volkes, aber nur in den Grenzen der Verfassung. Zu den Grenzen, die die Verfassung der Volksherrschaft setzt, gehört das Verbot von Parteien, die darauf aus sind, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen“. So steht es im Grundgesetz. Solche Verbotsverfahren sind in der Geschichte der Bundesrepublik selten betrieben und noch seltener sind Verbote ausgesprochen worden. Diese Verfahren zu riskieren, gehört aber zu den überlebenswichtigen Experimenten der Lebensform Demokratie. Es handelt sich um Notstandsverhinderungsrecht.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 16.10.2025 in der Süddeutschen Zeitung.