Das Schöffenwesen im Strafrecht ist Traditionstheater aus dem 19. Jahrhundert. Eine engagierte und couragierte Justizpolitik könnte es abschaffen. Sie sollte es sogar tun.

Es gibt in Deutschland weit über hunderttausend Menschen mit einer ganz besonderen Macht: Sie sind ehrenamtliche Richter; im Strafrecht heißen sie Schöffen. Es sind viele, es sind insgesamt fünfmal so viele wie Berufsrichter. Macht haben sie deswegen, weil sie zwar keine Robe tragen, aber gleichwohl bei den Entscheidungen das gleiche Stimmgewicht haben wie die Berufsrichter; sie können den Berufsrichter sogar überstimmen. Das ist eigentlich spektakulär, hat aber bisher die Gesetzgebung nicht besonders interessiert. Es interessiert das aber mehr und mehr die Verfassungsgegner. Es ist daher Zeit für grundsätzliche Überlegungen: Braucht es wirklich Laienrichter? Wo, an welchen Gerichten, braucht es sie? Und wenn es sie braucht, wie sorgfältig müssen sie ausgewählt werden?

Können, dürfen Rechtsextremisten Laienrichter werden? Es ist festzustellen: Das geht derzeit ganz leicht. Und es ist ziemlich schwer, sie dann aus dem Amt wieder zu entfernen. Die Regeln für die Auswahl der ehrenamtlichen Richter werden der Bedeutung und dem Ernst der Sache nicht gerecht. Eine Prüfung, die den Namen Prüfung verdient, findet viel zu selten statt, schon gleich gar nicht bei den ehrenamtlichen Richtern an den Strafgerichten, also bei den Schöffinnen und Schöffen, die den Großteil der ehrenamtlichen Richterschaft stellen. Es handelt sich bisweilen nicht um eine Wahl, sondern eher um eine Lotterie.

„Drei Stunden zum Fremdschämen.“

Nach den geltenden Vorschriften stellen die Kommunen die Vorschlagslisten für die Schöffen auf, sind aber überfordert damit, eine sachgerechte Auswahl von Kandidaten zu treffen. In vielen Großstädten werden sie daher nach dem Zufallsprinzip aus dem Melderegister herausgelost. Ein Richterwahlausschuss – bestehend aus einem Berufsrichter, einem Verwaltungsbeamten und sieben Vertrauenspersonen – trifft dann daraus die endgültige Auswahl, hat aber die Informationen und die Zeit nicht, die er dafür bräuchte. In einer Fachzeitschrift hat Bettina Cain vom Bund ehrenamtlicher Richter ihre Erfahrungen in diesem Ausschuss geschildert: In drei Stunden aus einer Liste von 950 Namen 464 Schöffen auszuwählen, waren für sie „drei Stunden zum Fremdschämen“. Kurz: Die Praxis der Schöffenauswahl ist schludrig bis dubios. Sie ist eine Schande für den Rechtsstaat.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Justizverwaltungen schon im Jahr 2008 aufgefordert, „streng darauf zu achten, nur Personen zu ernennen, die Gewähr dafür bieten, dass sie ihre Pflicht zur besonderen Verfassungstreue“ erfüllen. Gesetze, die diese Karlsruher Vorgabe möglich machen, gibt es aber bis heute nicht. Der Justizverwaltung wird daher eine Verantwortung aufgebürdet, der sie nicht gerecht werden kann. Wie sollen Leute von vornherein aussortiert werden, die im Internet oder sonst wo die Bundesrepublik als „Besatzungsregime“ bezeichnen, den Holocaust als „Klacks“ verharmlosen, Asylbewerber als „Tiere“ beschimpfen, Politiker etablierter Parteien als „Volksschädlinge“ beleidigen oder auf ihrem Balkon die Reichskriegsflagge hissen? Soll man sich da darauf verlassen, dass irgendwie ein Netz sozialer Kontrolle funktioniert? Soll beim Verfassungsschutz angefragt werden? Zumindest in Einzelfällen – und wenn ja, in welchen?

Es kann nicht darum gehen, alle Rechtspopulisten vom Ehrenamt fernzuhalten. Da hätte man zu tun: Bei der Bundestagswahl 2021 haben 4,8 Millionen Menschen AfD gewählt, bei der Wahl von 2024 10,3 Millionen. Die Herausforderung, so der Jurist Joachim Wagner, der ein Buch über „Rechte Richter“ geschrieben hat, bestehe darin, dass durch die Radikalisierung und Machtverschiebungen in der AfD in Richtung des völkischen Höcke-Flügels die Zahl verfassungsfeindlicher Mitglieder und Wähler gestiegen sei. Das ist tatsächlich so. Ist das aber wirklich ein Grund, wieder eine Art Radikalenerlass einzuführen?

Es geht um den angeblich gesunden Menschenverstand

Es ist dies eher ein Grund, ganz grundsätzlich zu überlegen, ob und wo man das Laienrichtertum wirklich noch braucht. Bei den Arbeits- und Sozialgerichten, auch bei den Finanzgerichten und den Kammern für Handelssachen ist es sinnvoll: Da sind die Laienrichter Fachleute, da geht es darum, dass sie besondere Sachkunde, dass sie praktische Erfahrungen aus Wirtschaft, Arbeitswelt und der Welt der Sozialversicherungen einbringen. Hier legen die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und Berufsverbände oder die Industrie- und Handelskammern Vorschlagslisten vor, aus denen dann die Richter berufen werden – die idealiter Sachverständige sind.

An den Strafgerichten, wo es die meisten ehrenamtlichen Richter gibt (hier als Schöffen bezeichnet), ist das ganz anders. Da spielt die Sachkunde gar keine Rolle, da geht es nur um den angeblich gesunden Menschenverstand. Begründet wird das in Festreden so: „Dadurch weitet sich die Rechtskenntnis des Volkes, es gewinnt mehr Vertrauen in die Rechtspflege … die Rechtspflege wird besser.“ Es wäre schön, wenn es so wäre. Solche Worte stehen im Gegensatz zu den Defiziten bei der Schöffenwahl, die als lästige Pflichtübung betrieben wird.

Ein Erbe der Französischen Revolution

Als das Schöffenwesen im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, war es ein Erbe der Französischen Revolution. Es sollte der Verwurzelung der Rechtsprechung im Volk dienen, es war Ausdruck des Misstrauens gegen die obrigkeitshörigen Berufsrichter. Dieses Misstrauen aber ist abgebaut. Aus einer aufklärerisch bekämpften und bürokratiehörigen Justiz sind Gerichte geworden, deren Rechtsschutzversprechen ein Grundvertrauen genießt. Ihre Richter sind in Herkunft und Selbstverständnis Teil der republikanischen Gesellschaft. Es gibt keine abgehobene Richterkaste mehr. Und die demokratische Legitimation eines Urteils „im Namen des Volkes“ ergibt sich nicht erst daraus, dass auch Laien am Richtertisch sitzen. Hunderttausende Urteile etwa im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit (an denen Laienrichter ja gar nicht mitwirken) hätten sonst minderen Status.

Zusammengefasst: Das Schöffenwesen im Strafrecht ist Traditionstheater aus dem 19. Jahrhundert. Eine engagierte und couragierte Justizpolitik könnte es abschaffen. Es wäre noch ausreichend Zeit dafür: Die nächste fünfjährige Amtsperiode für Schöffen beginnt erst 2029.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 27.11.2025 in der Süddeutschen Zeitung.