Das Buch des bekannten britischen Historikers Richard J. Evans über „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ schließt mit einer kühnen These: „Der einzige Weg, nachzuweisen, was wahr und was falsch ist, ist und bleibt sorgfältige, akribische Arbeit“. Was soll an dieser These kühn sein, ist sie nicht selbstverständlich? Selbstverständlich war sie nie, aber seit Verschwörungstheorien dank Internet, Kino und Fernsehen zunehmend das Feld beherrschen, die Konjunktur der „alternativen Fakten“ ungebrochen und das Zusammenspiel von erregter Übertreibung, Argwohn und Verschwörungsphantasie selbst in der Mitte der Gesellschaft en vogue ist, hat Evans‘ Behauptung einen schweren Stand. Umso verdienstvoller ist sein Buch, in dem er die Funktionsweise und Wirkung diverser Verschwörungstheorien „sorgfältig und akribisch“ ebenso scharfsinnig wie unbestechlich untersucht.
Es ist kein Zufall, dass Evans seine Überlegungen am Beispiel der Nationalsozialisten und ihrer Verschwörungstheorien entfaltet. Denn nirgendwo, schreibt er, „ist die Ausbreitung von Verschwörungstheorien und ‚alternativer Fakten‘ offensichtlicher als in revisionistischen Darstellungen der Geschichte des Dritten Reichs“, im Mittelpunkt selbstverständlich immer die Figur Adolf Hitler. Seit langer Zeit diskreditierte Legenden sind in den vergangenen Jahren zu neuem Leben erwacht, durch neu entdeckte Belege versehen mit vermeintlicher Glaubwürdigkeit. Von den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ über die „Dolchstoßlegende“, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß‘ „Friedensangebot“ an die Briten bis zu Hitlers vermeintlicher Flucht aus dem Bunker zerlegt Evans die Legenden kunstgerecht.
Alle Verschwörungstheoretiker waren zu allen Zeiten von der Überzeugung inspiriert, dass in der Geschichte nichts zufällig geschieht, die Annahme, alles, was vor sich gehe, sei das Ergebnis geheimer Machenschaften böswilliger Gruppen, die hinter den Kulissen die Ereignisse manipulieren, gehört zu ihrem ideologischen Handgepäck. Die Gegenstände der Legenden ändern sich, die Methoden der Verschwörungstheoretiker und ihre Strategien aber dauern fort. Stets geht es darum, die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion zu verwischen.
Zu den beunruhigendsten Aspekten vieler Verschwörungstheorien aber gehört der Glaube, schreibt Evans, dass es für sie im Grunde überhaupt keine Rolle spielt, ob sie wahr sind oder falsch: „Aber es spielt eine Rolle.“ Es sei harte Arbeit herauszufinden, was in der Geschichte wirklich geschehen ist, dazu gehöre die Bereitschaft, seine Vorurteile und vorgefassten Ansichten aufzugeben, wenn die Belege gegen sie sprechen. Mit andern Worten: Verschwörungstheoretiker sind nicht nur die natürlichen, sondern die hartnäckigsten Gegner der Wissenschaft – die gefährlichsten sind sie selbstverständlich auch.
Richard J. Evans, Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien – Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen, Deutsche Verlagsanstalt 2021, 367 Seiten, 26 Euro.