Die Partei leidet nicht nur an ihrem Parteichef und dessen Unseriösität. Sie leidet auch und vor allem an programmatischer Entleerung.

Kolumne von Heribert Prantl

Jeder Politiker, der etwas auf sich hält und ein langes Interview gibt, lässt dort einen Hinweis auf Max Weber fallen. Ob es um den Ukraine-Krieg geht oder um die Migrationspolitik: Ohne die vom Soziologen Max Weber vor 105 Jahren getroffene Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik kommt dabei keiner aus, auch Sigmar Gabriel nicht, jüngst in einem FAZ-Interview. Die Unterscheidung ist fragwürdig – und sie wird nicht besser dadurch, dass Hinz und Kunz und Gabriel und viele mehr sich darauf berufen. Es ist dabei so, dass der Interviewte sich als „Verantwortungspolitiker“ benennt und er seine Position als die der „Verantwortung“ bezeichnet. Das macht sich gut. Im bevorstehenden Wahlkampf wird es einen Wettlauf der angeblichen Verantwortungsethiker geben. Friedrich Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck, aber auch Sahra Wagenknecht werden sich jeweils auf die Verantwortung berufen, die dies, das oder jenes gebiete; und sie werden die „Gesinnung“ der anderen als fragwürdig, falsch oder gefährlich abwerten.

Verantwortungsethik und Gesinnungsethik – das klingt so einfach und klar wie die Feststellung: Es gibt Äpfel und es gibt Birnen. Aber so ist es nicht. Die eine Sorte Ethik ist nämlich angeblich immer wurmstichig: Gesinnungsethik ist für Max Weber ungenießbar. Nur der Verantwortungsethiker ist in seinen Augen politisch erwachsen, weil er akzeptiert, dass der gute Zweck sittlich fragwürdige Mittel erfordern kann. Der Gesinnungsethiker aber ist für ihn ein naiv-politisches Kind, weil er um seines guten Gewissens willen die unguten Folgen seiner Entscheidungen nicht sich selbst, sondern der bösen Welt zurechnet. Diesen schlechten Ruf ist die „Gesinnungsethik“ nicht mehr losgeworden, wie überhaupt die Unterscheidung zwischen zwei Ethiken wie ein Naturgesetz gehandelt wird. Sie wird als politische Allzweckwaffe im Kampf der Meinungen eingesetzt. „Gesinnungsethik“ ist, völlig unabhängig von der Gesinnung, die jeweils hinter ihr steht, zu einem Schimpfwort geworden. Heute hat sich das Wort „Gutmensch“ für den Gesinnungsethiker eingebürgert.

Paradebeispiele für Gesinnungsethiker waren für Max Weber die damaligen revolutionären Pazifisten wie Kurt Eisner, Erich Mühsam und Gustav Landauer. An ihnen arbeitet er sich in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919 ab, er bezeichnet sie als „Windbeutel“. Sind sie das? Waren Albert Einstein und J. Robert Oppenheimer Windbeutel, weil sie sich nach dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki von ihrem Atomprojekt gründlich distanzierten? Und was ist mit Martin Luther King, dem vor sechzig Jahren der Friedensnobelpreis verliehen wurde, und der sich nicht als doktrinären, sondern als „realistischen Pazifisten“ bezeichnete? Er hielt „die pazifistische Position nicht für sündlos, sondern für das kleinere Übel unter den gegebenen Umständen“.

Es gibt keine gesinnungslose Verantwortung. Und es gibt keine verantwortungslose Gesinnung

Oppenheimer ist zum erbitterten Gegner der Entwicklung der Wasserstoffbombe und der atomaren Aufrüstung geworden. War er also erst ein Verantwortungsethiker und dann ein Gesinnungsethiker? Oder war es umgekehrt? Heute ist es in Deutschland so: Diejenigen, die für den Einsatz von weitreichenden Waffen in der Ukraine sind, sehen sich als die Realpolitiker, weil Putin nur diese Sprache verstehe und man sich nicht erpressen lassen dürfe. Sie wollen gegen Diktatur und Unfreiheit streiten und nehmen für sich die Verantwortungsethik in Anspruch.

Diejenigen, die vor dem Taurus, vor Kontrollverlust und vor einer atomaren Eskalation des Krieges warnen, tun das freilich auch; auch sie nehmen die Verantwortungsethik in Anspruch. Die Verantwortungsethik blickt auf die Folgen der Entscheidung, so Max Weber. Nur: Wer kennt die schon im Voraus? Wie oft sind Prognosen auch interessengeleitet. Wie oft irren die Voraussagen. Wie oft verfehlt oder übertrifft die Wirklichkeit alles zuvor Vermutete oder Bedachte.

Es wäre, es ist hilfreich, die dogmatisch erstarrte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik aufzugeben. Das könnte die Dialogbereitschaft erhöhen und damit auch den Spielraum für Erkenntnisgewinne. Es gibt in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung all die Windbeuteleien, die Max Weber 1919 so auf die Nerven gingen: Hitzköpfigkeit und Holzköpfigkeit, Prinzipienreiterei und Besserwisserei, Vereinfachungen und Hypermoralisierungen. Max Weber hat das damals vor allem bei den Pazifisten gesehen. Heute werden die politischen Windbeutel auf allen Seiten gebacken.

Es gibt keine gesinnungslose Verantwortung, das wäre ein Widerspruch in sich; denn wovor sollte die Verantwortung sich dann verantworten? Es gibt kein verantwortliches Entscheiden im moral- und rechtsfreien Raum, kein verantwortliches Handeln ohne Überzeugungen. Zugleich gilt: Es gibt keine verantwortungslose Gesinnung; sie wäre nichts als Stimmung, Lust oder Laune.

Sinnhafte ethische Leitlinien für politische Entscheidungen entstehen nicht in der Wurstbude oder im Bierzelt. Sie entstehen im mühsamen Gespräch, in dem man sich in Widersprüche verwickeln lässt und Widersprüche aushält. Darum ist Gesinnung auch kein Ruhekissen, auf dem dann die Vernunft ein Schläfchen hält. Und weder Gesinnung noch Verantwortung können und dürfen Feigenblätter sein, hinter denen man die Faulheit zu denken oder zu streiten versteckt. Darin besteht der Unterschied zwischen Moralismus und moralischem Handeln.

Politik, so Max Weber, „bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Ob Max Weber ahnte, dass das, was er hier allgemein über Politik sagte, auch für den Pazifismus gelten kann? Es sei ja durchaus richtig, so setzte er fort, „dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. (…) Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ‚dennoch!‘ zu sagen vermag, nur der hat den ‚Beruf‘ zur Politik.“ Das allerdings kann man auch für die behaupten, die den „Beruf“ zum Pazifismus haben.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 28.11.2024 in der Süddeutchen Zeitung.