1524 hielt der kämpferische junge Pastor Thomas Müntzer seine „Fürstenpredigt“. Ein Jahr später waren er und 6000 seiner Anhänger tot.
Kolumne von Heribert Prantl
Vor genau fünfhundert Jahren war er fertig. Thomas Müntzer hatte die wichtigste all seiner Reformpredigten fertig geschrieben. Es war Nacht, es war die Nacht vor dem großen Auftritt auf Schloss Allstedt. Am nächsten Morgen, am Vormittag des 13. Juli 1524, sollte er dort, in der Hofstube, seinen Fürsten predigen: dem Herzog Johann von Sachsen und dessen Sohn, dem Kurprinzen Johann Friedrich, und ihrer Entourage. Müntzer hatte daran lange gefeilt, weil die Predigt ja auch gedruckt werden sollte in der Werkstatt von Nikolaus Widemar. Unter dem Namen „Fürstenpredigt“ ist sie dann berühmt und berüchtigt geworden.
Ob der 35-jährige Pastor das ahnte an diesem Vorabend der gespannt-selbstbewussten Zufriedenheit mit seinem Werk? Die Predigt war nicht einfach ein langer heiliger Sermon, es war eine Philippika, eine leidenschaftliche, biblisch eingekleidete Brandrede. Müntzer war ein hochgebildeter Mann: Er wusste, woher der Ausdruck Philippika kommt. Demosthenes, der athenische Staatsmann, hatte einst zum Widerstand gegen König Philipp von Makedonien ausgerufen. Müntzer rief nun zum Widerstand auf gegen die Unterdrückung von Wahrheit und Gerechtigkeit durch die kirchlichen und adligen Herrschaften – nicht ohne vorher in der Predigt zu versuchen, sie für seine Reformation anzuwerben. Er hatte ja schon einiges erreicht, liturgische Reformen zum Beispiel: Er las, schon vor Luther, die Messe auf Deutsch, sang und predigte auf Deutsch, wandte sich am Altar der Gemeinde zu und hatte deswegen gewaltigen Zulauf.
Mit seiner Fürstenpredigt ging er nun weiter, er begann nun seinen verzweifelten Kampf für die Rechte der Bauern, seinen Kampf gegen Ausbeutung und Leibeigenschaft. Ein Jahr später war Thomas Müntzer tot – gefoltert nach der desaströsen Niederlage seines Bauernheers am Schlachtberg bei Frankenhausen und zusammen mit 53 Anhängern öffentlich enthauptet. Es war keine Schlacht, es war ein Massaker. Von den siebentausend Aufständischen unter Müntzers Führung, völlig unzureichend bewaffnet mit Dreschflegel, Sense und Morgenstern, wurden sechstausend niedergemetzelt; vom fürstlichen Söldnerheer starben nur sechs Mann. Es war dies eine andere Apokalypse als die, die er seinen vielen Anhängern prophezeit hatte. Seine schwangere Frau, die ehemalige Nonne Ottilie von Gersen, wurde von einem Landsknecht vergewaltigt.
Der Fürstenpredigt wegen und was sich aus ihr kriegerisch entwickelte, nannte Heinrich Heine den Reformator und Revolutionär Thomas Müntzer einen der „heldenmütigsten und unglücklichsten Söhne des deutschen Vaterlandes“. Andere, noch viel später, nannten Müntzer den „Mao aus dem Südharz“ oder den „Che Guevara des 16. Jahrhunderts“. Ein Mao, ein Che? Thomas Müntzer war ein frommer Mann, der mit Martin Luther wetteiferte darin, wie die Kirche zu reformieren und die Ordnung Gottes herzustellen sei. Luther hat den Leuten aufs Maul geschaut und dann die heiligen Schriften mundgerecht ins Deutsche übersetzt. Aber er wollte nicht, dass der gemeine Mann Ansprüche und Umsturzideen daraus ableitet. Aber Müntzer wollte genau das. So steht es in seiner Fürstenrede, an der er vor fünfhundert Jahren, am Vorabend der großen Predigt, saß – hochgestimmt und überzeugt davon, dass der Heilige Geist ihm schon die richtigen Gedanken und die treffenden Worte eingegeben habe.
Müntzer trieb der Reformtheologie Luthers die Untertänigkeit aus
Mit seiner Predigt schrieb er Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ fort. Ein Christenmensch, so hatte Luther gelehrt, sei ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan – worauf sich die Bauern am Beginn ihres „Uffrurs“ stützten. Aber sie hatten Luthers zweiten Satz nicht zur Kenntnis genommen: Ein Christenmensch, so schrieb der dann nämlich weiter, sei ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Gott habe den Fürsten das Schwert in die Hand gegeben, ihnen habe sich der Christenmensch unterzuordnen. Müntzer übertrug nun die Freiheitsbotschaft auf die politischen Verhältnisse; er trieb der Reformtheologie Luthers die Untertänigkeit gegenüber den Fürsten aus. Müntzer propagierte den Gleichrang aller Menschen. Er hebelte die Ständeordnung aus, indem er das Volk als „auserwählt“ erklärte – und ihm damit Rechte zusprach, nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die Fürsten und adligen Herrschaften.
Kolumbus entdeckte 1492 Amerika. Müntzer entdeckte 1524 das Volk: Er war der Reformator, der, gedrängt von der Caritas Christi, massive Kritik an den Fürsten übte und der dem Volk, weil von Gott auserwählt, ein Widerstandsrecht gegen die Herrschaften gab. Müntzer war, er ist ein Ideengeber für den Satz „Wir sind das Volk“. Fürsten mögen Fürsten bleiben, so sagte er in seiner Fürstenpredigt, solange sie ihr Schwert gottgewollt gebrauchen und für den wahren Glauben kämpfen – wenn nicht, dann solle sich das Schwert gegen sie richten: „Denn die Gottlosen haben kein Recht zu leben“. Luther war empört: Christus sei am Kreuz gestorben zur Erlösung der Menschen von ihren Sünden, nicht von ihrer Leibeigenschaft; so giftete er gegen den angeblichen Erzketzer und nannte ihn – mit der prallen Wucht des Wortes, die ihm und Müntzer gleichermaßen zu Gebote stand – einen „beschissenen Propheten“ und „lügenhaften Teufel“. Der gab deftig zurück und nannte sein ehemaliges Vorbild „das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“.
Der Reformator Müntzer war so wenig ein Wegbereiter der Demokratie, wie der Reformator Luther ein Wegbereiter der Toleranz war. Mit der Freiheit der Andersdenkenden hatten beide nichts am Hut. Die Fürstenpredigt Müntzers hat aber ein paar Monate später die zwölf Memminger Artikel von 1525 beeinflusst, die als das zentrale Manifest des Bauernkriegs gelten. Diese zwölf Artikel waren das Programm dieser ersten deutschen Revolution. Und die fünfzig Vertreter der Bauernhaufen und Truppen, die es in der Stube der Memminger Kramerzunft erstellten, waren das erste deutsche Volksparlament. Dessen Beschlüsse waren die Postulate einer gewaltigen, noch immer viel zu wenig bekannten, ganz breiten Volksbewegung und Volkserhebung, an der sich auch Ritter wie Florian Geyer und Götz von Berlichingen beteiligten. Es war dies eine Massenbewegung, ein Aufstand mit weit über hunderttausend Aufständischen. Er reichte von Venetien bis ins Elsass und die Pfalz nach Franken und Thüringen. Und im Zentrum: Schwaben und die freie Reichsstadt Memmingen. Im nächsten Jahr wird viel Gelegenheit sein, das zu rühmen.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 04.07.2024 in der Süddeutchen Zeitung.