Die Probleme der alternden Gesellschaft liegen brach. Warum? Im Bundestag gibt es nur neun Abgeordnete über siebzig – von 630.

 

Die Alte Welt ist deswegen eine alte Welt, weil die Menschen in Europa immer älter werden: Im Jahr 2050 werden mehr als siebzig Millionen Menschen in Europa über achtzig Jahre alt sein. Jeder Zehnte! Das verändert den Kontinent grundlegend. Politik und Gesellschaft nehmen diese Veränderungen bisher wenig zur Kenntnis. In den Wahlkämpfen spielen die Alten, ihre Bedürfnisse und ihre Fragen kaum eine Rolle jenseits der Rentendebatte. Wie müssen wir unsere Stadtviertel, unsere Geschäfte und Straßen bauen oder umbauen, damit alte Menschen sich darin bewegen und orientieren können? Wie müssen soziale Medien ausschauen, auf dass dort nicht nur junge, sondern auch alte Menschen zu Hause sein können? Wir sollten uns, wenn wir diese Fragen beantworten, daran erinnern, dass die Eule seit jeher als Symbol von Alter und Weisheit gilt.

Die Betreuung sehr alter Menschen funktioniert nicht mehr recht, sondern schlecht. Es ist zum Fürchten. Die Gesellschaft wird ihren Frieden machen müssen mit der Demenz, die eher Schicksal ist als Krankheit, nämlich eine Variante des Lebens im meist sehr hohen Alter. Nicht die Demenz ist neu, die hohe Zahl der dementen Menschen ist neu. Die Alte Welt wird neue Ideen dafür entwickeln müssen, wie Städte und Gemeinschaften aussehen könnten, in denen man „in Ruhe verrückt werden kann“, wie das der Soziologe und Altersforscher Reimer Gronemeyer einmal formuliert hat. „Kinder sind unsere Zukunft“, so hört man es oft. Der Satz ist richtig und wichtig. Aber er ist nur die halbe Wahrheit: Auch die Alten sind unsere Zukunft, denn unsere Zukunft ist das Alter. Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen. Er ist das Band, welches das Leben umspannt.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – die Altenheime sind Orte, an denen sich dieser Haupt- und Eingangssatz des Grundgesetzes besonders bewähren muss. Man sollte ihn dort an die Eingangstüren hängen. Es geht um Menschen, die ein Leben lang geackert haben; sie brauchen Hilfe, jemanden, der ihnen zuhört, mit ihnen isst, sie in den Arm nimmt, sie ins Zimmer bringt, wenn sie nachts durch die Flure irren, der sie nicht auslacht, wenn sie klagen, dass man ihnen ihr Geld gestohlen habe. Das stimmt ja auch: Pflege ist teuer. Die Ersparnisse vieler alter Menschen schmelzen deshalb schnell dahin.

Allein in Deutschland wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf sechs Millionen steigen. Und es klafft, so die Prognosen, im Jahr 2030 eine Versorgungslücke von bis zu 500 000 Pflegefachkräften. Noch leben die allermeisten Pflegebedürftigen zu Hause. Ohne die Familien, die sich kümmern, wäre die Pflegeversicherung bankrott. Eine Kultur, die die Lebenszeit so wunderbar verlängert hat, hat bisher nur unzulängliche Antworten auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen.

Das Bundesverfassungsgericht stellte 2020 dem Lebensrecht ein Sterberecht zur Seite. Es hat dem Menschen ein Recht auf den selbstbestimmten Tod gegeben, daher die Beihilfe zum Suizid erlaubt. Das war wichtig und richtig. Es gilt aber nicht nur das Recht zum selbstbestimmten Sterben zu sichern, sondern auch das Recht zum selbstbestimmten Leben. Auch die Würde des hohen Alters ist unantastbar. Einen Druck zum Ableben darf es nicht geben.

Ein paar mehr Alte sähe man gern im Bundestag

Vielleicht fänden die Probleme des Alterns und die Schicksale der Alten mehr Beachtung, wenn mehr Politiker aus diesen Generationen in den Parlamenten vertreten wären; dort sind die Älteren und die Alten kaum mehr vertreten. Der Bundestag hat 630 Abgeordnete, nur neun davon sind über siebzig. Ein paar Alte mehr sähe man dort ganz gern. Insbesondere aus anderen Parteien als der AfD, die aktuell absurderweise sieben der neun Abgeordneten über 70 stellt. So einen zum Beispiel, wie der FDP-Politiker Gerhart Baum einer war, der kürzlich im Alter von 93 Jahren verstarb.

Er war einst Bundesinnenminister im Kabinett von Helmut Schmidt. Als er von diesem Amt zurücktrat, war er 50 Jahre alt. Als er aus dem Bundestag ausschied, war er 62. Seitdem war er dann alles Mögliche, UN-Menschenrechtsbeauftragter im Sudan zum Beispiel und ein höchst erfolgreicher Rechtsanwalt mit lukrativen und politisch heiklen Mandaten. Baum war bis zu seinem Tod ein Feuerkopf, ein Mann mit Leidenschaft. Und er konnte bis zuletzt streiten, bis die Gegner vom Stuhl fielen. Zu alt für die Arbeit in einem Parlament? Es würde dem Parlament und Baums Partei guttun, wenn Alte seines Schlages noch aktive Politiker wären.

Die Politik braucht mehr wilde, mutige und abgeklärte Alte, nur ihrem Gewissen unterworfen – wie einst auch Trude Unruh eine war, die 2021 verstorbene Gründerin des Seniorenschutzbundes Graue Panther, die Anfang der Neunzigerjahre ein paar Jahre lang für die Grünen im Bundestag saß. Vielleicht täten sich diese alten Abgeordneten leichter als die jüngeren, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ zu sein, wie es sich das Grundgesetz wünscht, weil ihre Lebens- und Berufserfahrung sie für den Fraktionszwang nicht mehr so greifbar macht.

Das Altersloch im politischen Alltag wird davon verdeckt, dass es in den Weltspitzenämtern so viele Alte gab und gibt, von denen ständig die Rede ist, von Leuten wie Trump oder Netanjahu. Aber das Pattex-Gen entfaltet sich ja nicht erst im Alter.

Die Alten können sich nicht damit begnügen, von den Jüngeren vertreten zu werden

„Der Deutsche Bundestag repräsentiert das Volk.“ So steht es auf der Homepage des Bundestags. Gehören die Älteren und Alten nicht mehr zum Volk? Es hat sich eingebürgert, dass Abgeordnete beim Erreichen der im Erwerbsleben üblichen Altersgrenze sich so allmählich auch aus dem Hohen Haus zu trollen haben. Sollen sich die Alten und sehr Alten also damit begnügen, dass sie von den Jungen hoffentlich und irgendwie adäquat vertreten werden? Gäbe es eine adäquate Vertretung, dann gäbe es vielleicht die beklagenswerten Zustände in den Alten- und Pflegeheimen nicht, dann gäbe es längst Wohnungsbauprogramme für Mehrgenerationenhäuser, dann stünde die Gesellschaft nicht so unvorbereitet vor den gewaltigen demografischen Veränderungen.

Das ist kein Plädoyer für eine Gerontokratie, sondern ein Plädoyer für angemessene parlamentarische Repräsentanz. Es sollten mehr Großväter und Urgroßmütter in der Politik arbeiten, und sie sollen neben jungen Leuten sitzen und mit jungen Leuten arbeiten, die ihre Enkel oder Urenkelinnen sein könnten. Das wäre auch eine gute Form von Diversität.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 12.06.2025 in der Süddeutschen Zeitung.