Eine Begrenzung der Zuwanderung mache uns „nicht zu Unmenschen“, sagt soeben Kanzler Olaf Scholz und fordert Abschiebungen „im großen Stil“. Er weiß freilich genau, dass, sollten jetzt Flüchtlinge aus Palästina zu uns kommen, wir sie nicht abschieben dürfen und können. Wer ein Europa der geschlossenen Grenzen fordert und Europa einmauern will, sollte das Buch lesen, das ich Ihnen heute empfehle. Es heißt „Hinter Mauern“.

Wo ist eigentlich „hinter“? Alles eine Frage der Perspektive! Der Essay über geschlossene Grenzen und offene Gesellschaften kehrt die gewohnte Betrachtung um, darin liegt seine Pointe. „Hinter“ der Mauer der „Festung Europa“ sind nicht diejenigen, die übers Mittelmeer oder diverse andere Routen Zugang suchen und nicht kriegen. „Hinter“ der Mauer sind wir, die Gesellschaften, die sich vor den Migranten abschotten wollen – vergeblich, wie sich immer wieder zeigt. Hinter der Mauer bleibt das Leben nicht unversehrt, aller vermeintlichen Sicherheit zum Trotz. Denn „die Grenze greift nach innen aus“. Was das Mauerbauen und Zäuneziehen mit den Menschen hinter den Mauern macht, wie es ihre Affekte und Mentalitäten, ihr Zusammenleben und ihre Ängste formt und verformt, davon handelt das Buch von Volker Heins und Frank Wolff.

Schleichend ist eines ihrer Lieblingswörter, mit denen sie beschreiben, wie die Mauermentalität entsteht. „Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen ihre Bevölkerung an Bilder notleidender verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen.“ Diese ersten Sätze ihres Büchleins entfalten die zwei Wissenschaftler in vier facettenreichen Kapiteln, immer auch mit Blick auf die Entwicklung in den USA. Sie weisen nach, dass der europäische Einigungsprozes, der Frieden nach innen und außen stiften und den Nationalismus überwinden sollte, mit einer rassistischen Entscheidung begann: Den Algeriern, die 1962 noch französische Staatsbürger waren, wurden nicht die gleichen Rechte zugestanden. Diese Ungleichbehandlung sei der Sündenfall, der den Riss zwischen dem gerade entstehenden politischen Europa und dem globalen Süden markierte.

Volker M. Heins ist Politikwissenschaftler am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und arbeitet seit Jahren zum Thema Migration. Frank Wolff ist Historiker an der Universität Osnabrück und hat sich in seinem Buch „Die Mauergesellschaft“ mit der deutsch-deutschen Migration bis 1989 beschäftigt. Die beiden bringen ihre Fach- und Forschungsgebiete aufs Beste zusammen, so dass ein luzides und originelles Werk dabei herausgekommen ist. Es ist kein Plädoyer für die Abschaffung von Grenzen, wohl aber für deren Demokratisierung. (Foto: Agnieszka Sadowska/Agencja Wyborcza.pl/Reuters)

Volker M. Heins und Frank Wolff: Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft. Das Buch ist 2023 im Suhrkamp Verlag erschienen, es hat 197 Seiten und kostet 18 Euro.

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