Kann man sich vorstellen, dass Petra Kelly heute noch Mitglied der Grünen wäre? Ein neuer Dokumentarfilm über sie heißt „Act Now“. Dieses Motto passt heute so wie damals. 

Kolumne von Heribert Prantl

Der Vater einer Freundin war im Ruhrgebiet zu Hause und ein ebenso begeisterter wie liebevoller Taubenzüchter. Als er schon sehr betagt war, nannte er jede Taube „Hans“. Wann immer er irgendwo eine verirrte beringte Taube entdeckte, der die Heimkehr missglückt war, lockte er sie mit zärtlichem Pfeifen und dem schmeichelnden Ruf: „Komm, Hans, komm.“ Das ist ein besonders schöner Satz, wenn man im Kopf hat, dass die Taube das Symbol des Friedens ist, und wenn man weiß, dass der Frieden nicht einfach von selbst kommt – dass man ihn also locken, dass man ihn stiften muss.

Der alte Herr war einst, als er ein paar Monate vor Kriegsende 18 Jahre alt wurde, von Hitlers Armee nach Nordnorwegen befohlen worden; und er hatte, seit es ihm abgenommen worden war, kein Gewehr mehr angefasst; er hat sogar den örtlichen Schützenverein gemieden. Er ist mir eingefallen beim Nachdenken über den Weltfriedenstag, der am kommenden Sonntag begangen wird; es ist diesmal der 85. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Zehn Jahre später wurde die von Pablo Picasso geschaffene Lithografie einer Taube das Plakatmotiv für den Pariser Weltfriedenskongress von 1949. Seitdem hat die Taube bei Demonstrationen gegen Gewalt und Krieg ihren Auftritt.

Es waren große Auftritte vor gut vierzig Jahren, es gab damals die größten Demonstrationen, die es bis dahin in der Bundesrepublik gegeben hatte. Hunderttausende demonstrierten gegen die Nachrüstung und „für ein atomwaffenfreies Europa“, sie propagierten „Kampf dem Atomtod“ und hielten die nukleare Aufrüstung für eine furchtbare Bedrohung. Das war sie auch. In dieser Zeit handelt ein Film, der jetzt in die Kinos kommt und in der kommenden Woche im Berliner Filmpalast Delphi Premiere hat. Es ist eine Arbeit der Dokumentarfilmerin und früheren SZ-Kollegin Doris Metz über Petra Kelly, er heißt „Act Now“. Dieses Motto passt heute so wie damals.

Kelly war die weltweit beachtete Symbolfigur der damals kraftvollen deutschen Umwelt- und Friedensbewegung, sie war die Gründungsfrau der grünen Partei; ohne sie, ohne ihr Charisma, ohne ihre messianische Ausstrahlung würde es womöglich die Grünen heute gar nicht geben. Der Film zeigt sie als hellsten Stern der frisch gegründeten Partei, er zeigt sie als Aktivistin, als Feministin, als Utopistin, als Visionärin; er zeigt ihre kleinen und großen Auftritte vor und mit dem Tauben-Transparent, er zeigt sie als Rednerin im Bundestag, in den sie mit ihrer Partei 1983 einzog; er zeigt sie als Demonstrantin auf dem Roten Platz in Moskau; er zeigt sie als hartnäckig-provokante Gesprächspartnerin von Erich Honecker. Der Film dokumentiert ihren furiosen Einsatz für eine antimachistische Politik; er zeigt aber auch, wie Petra Kelly in ihrer Partei mehr und mehr zur Einzelkämpferin wird, weil andere dort mehr und mehr das Sagen bekommen – Joschka Fischer zuvorderst. 1992, da ist sie 44 Jahre alt, wird Kelly von ihrem Lebensgefährten und politischen Mitstreiter, dem Ex-General Gert Bastian, in der gemeinsamen Wohnung in Bonn erschossen; Bastian tötet sich anschließend selbst. Es ist ein furchtbar-tragisches Ende eines atemlosen politischen Lebens.

In der grünen Partei konkurrierten Fragen der Gerechtigkeit

Die grüne Partei war in ihren frühen Jahren ein Sammelbecken für Gerechtigkeitsfragen aller Art, die oft miteinander konkurrierten. Die Klärung dieser Konkurrenzen bestimmt die Geschichte dieser Partei. Diese Klärung beginnt mit der Entkellysierung und der Verfischerung der grünen Partei noch zu Lebzeiten Kellys. Das feste Bündnis zwischen der Friedens- und Umweltbewegung verlor erst seine Festigkeit und verlor sich dann ganz. Die von Joschka Fischer als Außenminister der rot-grünen Regierung des Kanzlers Schröder betriebene deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg markierte den Abschied der grünen Partei vom Antimilitarismus. Rot-Grün führte Deutschland 1999 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in einen Krieg; man nannte ihn aber nicht Krieg, sondern „humanitäre Intervention“. Christian Ströbele und Antje Vollmer, die noch die Friedensfahne hochgehalten hatten, haben keine Nachfolger. Ströbele ist 2022, Vollmer 2023 gestorben.

Der Abschied der Grünen vom Antimilitarismus wurde in der Ukrainepolitik vollendet. Aus der grünen Partei, die einst in der Friedensbewegung zu Hause war, ist eine Falknerei für Menschenrechte geworden. Die Friedenstaube gehört nicht mehr zu den grünen Requisiten – und wenn, dann trägt sie wohl keinen Olivenzweig, sondern eine US-Tomahawk-Rakete im Schnabel. Kann man sich vorstellen, dass Petra Kelly noch Mitglied einer solchen Partei wäre? Vielleicht hätte sie eine neue Partei gegründet, vielleicht wäre sie heute in der „Letzten Generation“ zu Hause. Vielleicht würde sie mit ihrem feministischen Scharfsinn den unerträglichen Männlichkeitswahn eines Putin oder Trump sezieren. Vielleicht würde sie die Frage stellen, ob es klug ist, 85 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs den Pazifismus in Deutschland so zu diskreditieren, wie es gegenwärtig geschieht.

„Soldaten sind Mörder“ – so formulierte es Kurt Tucholsky 1931

Der Pazifismus hatte es in der Bundesrepublik selten so schwer wie heute. Wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheiden würde, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ nicht strafbar ist – der Protest wäre noch viel lauter als im Jahr 1995, als Karlsruhe dieses Straflosigkeitsurteil fällte. Die höchsten Richter stellten sich damals nicht hinter diesen Satz; sie teilten nicht die Aussage, sondern sie schützten den, der sie macht, vor strafrechtlicher Verfolgung – nicht mehr, nicht weniger. Wären nämlich nur solche Meinungen von der Meinungsfreiheit geschützt, die von der Mehrheit geteilt werden, dann müsste die Meinungsfreiheit künftig Mehrheitsmeinungsfreiheit heißen. Es mag sein, dass der Satz heute, in der Kriegstüchtigkeitsrenaissance, die Mehrheit so aufbringt wie damals, 1931, als Tucholsky ihn formulierte. Aber selbst damals kam das Kammergericht Berlin im folgenden Jahr zu einem Freispruch: Straffrei bleibt, wer sich mit dem Krieg als solchem und seiner verrohenden Dynamik auseinandersetzt.

Das blutige Handwerk wird durch Drohnen und Marschflugkörper nicht weniger blutig. Wer sich wünscht, dass es ausstirbt, ist ein pazifistischer Mensch. Wer sich wünscht, dass die Tauben einen Ölzweig im Schnabel tragen, ist auch einer. „Act Now“ ist ein gutes Motto.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 29.08.2024 in der Süddeutchen Zeitung.