Der deutsche Verteidigungsminister begründet die Aufrüstung mit einer militärischen „Fähigkeitslücke“. An so einer Lücke leidet auch die Friedensbewegung.

Kolumne von Heribert Prantl

Es ist still. Es ist totenstill. In Deutschland werden Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und Hyperschallraketen aufgestellt – und es bleibt still im Land. Kein lauter Protest, kein Aufschrei, keine Demonstrationen. Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem diese US-Waffensysteme stationiert werden. Sie richten sich gegen Russland. Warum ist es so still? Weil Sommer ist, weil Ferien sind? Weil die Erklärung der USA und der Bundesrepublik zur Stationierung so unglaublich lapidar und kurz ist? Sie ist ganze neun Zeilen lang. Hat die Stille damit zu tun, weil noch Zeit zu sein scheint? Die Stationierung soll ja erst 2026 beginnen. Oder ist es still, weil die allgemeine Überzeugung herrscht, dass von diesen Raketen „nur Frieden“ ausgeht.

Vom deutschen Boden wird künftig nur Frieden ausgehen – das haben jedenfalls die damals noch zwei deutschen Staaten 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag versprochen. Die DDR und die Bundesrepublik waren die zwei; die vier waren Frankreich, die Sowjetunion, Großbritannien und die USA. Dieser Vertrag hat den Weg für die deutsche Wiedervereinigung frei gemacht. Geht also von diesen neuen Raketen, die atomar bestückt werden könnten, der Frieden aus? Oder hat dieses Versprechen seit dem Ukraine-Krieg einen anderen Gehalt – weil jetzt Abschreckung wichtiger ist als Abrüstung? Sind die Zeiten so kriegerisch, dass ein Reden über Abrüstung nicht sinnvoll ist? Hat das Wort Frieden seine Magie verloren? Es ist still hinter diesen Fragezeichen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Entscheidung über die US-Raketenstationierung in Deutschland als eine „sehr gute Entscheidung“ bezeichnet. Muss er das sagen, weil er ja in seinem Amtseid versprochen hat, Schaden vom deutschen Volk zu wenden? Wie groß ist die Gefahr, dass Deutschland zum Schlachtfeld wird? Das waren jedenfalls die Befürchtungen damals, bei den Protesten gegen die Nachrüstung in den Achtzigerjahren, als die Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik stationiert wurden. Der Atomkrieg sei, so hieß es seinerzeit bei den großen Protesten, mit diesen Pershing-Raketen „präziser und führbarer“ geworden; die Hemmschwelle für ihren Einsatz werde daher sinken. Die Tomahawks, die jetzt zur Aufstellung kommen, verdienen das Wort präzise wirklich. Und sie können, anders als die Pershing, Moskau erreichen. Steigt oder sinkt damit die Gefahr, dass Moskau diese Raketen präventiv auszuschalten versucht?

Es ist so still in Deutschland, dass man den Nachhall der alten Proteste noch hört, der Proteste von damals, als es noch eine Friedensbewegung gab. Das ist vierzig, das ist fünfundvierzig Jahre her. Millionen Menschen gingen damals unter dem Motto „Kampf dem Atomtod“ auf die Straße und protestieren gegen den Nato-Doppelbeschluss. Das Fanal für die Proteste war die Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten im Oktober 1981, es folgten die vielen Blockaden gegen die Raketentransporte in Mutlangen. Zu den Blockierern gehörten erst Schriftsteller wie Grass und Böll, Männer und Frauen der Kirche, Künstler und Hochschullehrer, dann auch Heerscharen von Namenlosen.

Die Justiz strafte vor allem Letztere wegen Nötigung und vollstreckte die Strafen auch noch, als die Raketen, gegen die sich die Blockaden gerichtet hatten, schon wieder abgezogen waren. Der Clou des Nato-Doppelbeschlusses war nämlich, dass die Nachrüstung mit einer Abrüstungsforderung an die Sowjets verbunden war – das war riskant, aber es funktionierte. Der SPD-Außenpolitiker Egon Bahr sagte später, man habe eine Art Erpressungssituation schaffen wollen. Sie hatte seinerzeit Erfolg: Im Jahr 1987 wurde der INF-Abrüstungsvertrag von den Staatschefs Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet; er wurde aber dann 2019 von den USA unter Präsident Trump wieder gekündigt, nachdem man sich gegenseitig der Nichteinhaltung beschuldigt hatte. Man tat und tut so, als sei die Abrüstung ein Käse – ein Käse mit Löchern, den man dieser Löcher wegen gleich gar nicht mehr produziert.

Hat das Wort Frieden seine Magie verloren?

Damals, zu Abrüstungszeiten, kam es auch bei der deutschen Justiz zu einer Art Abrüstung: Das Bundesverfassungsgericht urteilte 1995, dass Sitzblockaden keine Gewalt darstellten. Die Strafen gegen Raketen-Blockierer mussten daher rückabgewickelt werden. Lange her. Aber noch 2010 beschloss der Bundestag mit breiter Mehrheit, die Regierung Merkel solle sich „mit Nachdruck“ für den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland einsetzen. Auch lange her. Sind die Tomahawks von heute weniger gefährlich, weil sie präziser und schneller sind als seinerzeit die Pershings? Oder ist die Weltlage so prekär, dass man die Angst davor, dass im Fall des Falles in Deutschland kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, aushalten muss?

Es fällt auf, dass die Aufrüstungsankündigung von heute, anders als die im Nato-Doppelbeschluss von 1979, gar nicht erst mit der Forderung nach Abrüstung verbunden wird. Ist das so, weil man von vornherein nicht daran glaubt, dass mögliche Vereinbarungen auch eingehalten werden? Das wäre eine Art diplomatischer Defätismus, der sich mit einer heute anschwellenden Gefahr abfindet, die der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker schon 1957 formuliert hat: „Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“

Die Angst davor hat in den Achtzigerjahren die Pershing-Proteste beflügelt. Heute ist es so, dass die Angst lähmt. Damals hat sie Protestkraft entwickelt, heute nimmt sie die Kraft. Viele schalten gleich ganz und gar ab, wenn es um Krieg, Rüstung und Waffen geht – weil sie das Gefühl haben, vor einem Berg zu stehen, über den sie nicht schauen können, weil der immer höher wird. Man nennt das Aussichtslosigkeit. Und so manche vermeiden es, für Abrüstung zu kämpfen, weil sie nicht schon deswegen als Putin-Freunde gelten wollen.

Verteidigungsminister Boris Pistorius argumentiert mit einer „Fähigkeitslücke“, um die militärische Aufrüstung zu begründen. An einer Fähigkeitslücke leidet aber auch die Friedensbewegung. Sie hat die Kraft der protestierenden Hoffnung verloren. Václav Havel hat diese einst so formuliert: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass es Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“ Diese Gewissheit gilt es wiederzugewinnen.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 18.07.2024 in der Süddeutchen Zeitung.