Die Leistung der Europäischen Union war es, die einstigen Unversöhnlichkeiten in eine Freundschaft zu verwandeln. Und auch Moskau gehört zu Europa. Die Probleme auf dem Kontinent verschwinden nicht damit, dass man es sich daraus wegdenkt.

Kolumne von Heribert Prantl

Die historische Leistung der EWG, der EG, der EU war es, die Feindschaften von gestern zu entfeinden. Heute gilt es, die Feindschaften von heute zu entfeinden. Wie das gehen soll? Das kann man sich angesichts des anhaltenden Angriffskriegs von Putin gegen die Ukraine kaum vorstellen. Aber während des Krieges bereits über eine Friedensordnung in Europa nach diesem Krieg nachzudenken, ist unverzichtbar. Dieses Nachdenken beginnt mit dem Gedanken, dass Moskau zu Europa gehört – so wie Mariupol, München, Marseille und Madrid. Madrid gehörte auch zur Zeit der Franco-Diktatur zu Europa; die Strahlkraft des demokratischen Europas hat dazu beigetragen, diese Diktatur zu überwinden. Die Probleme auf dem Kontinent verschwinden nicht damit, dass man sich Russland wegen Putin einfach aus Europa wegdenkt – auch wenn der von Putin befohlene Krieg allem widerspricht, wofür das heutige Europa steht und stehen will. Die Probleme verschwinden nicht, wenn man die russische Invasion als Scheidungskrieg interpretiert, als Scheidung von Europa. Aber Putin ist 72 Jahre alt, er hat nicht das ewige Leben; Russland auch nicht, aber ein deutlich längeres schon.

Das EU-Europa wurde gebaut aus überwundenen Erbfeindschaften. Die europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Das europäische Kleinstaatengerümpel, wie Adolf Hitler es verächtlich genannt hatte, tat sich zusammen, es überwand die gut gepflegten Animositäten, den alten Nationalismus und die uralten Feindschaften. Die Gründung der EWG, der EG, der EU war und ist ein welthistorisches Friedensprojekt. Es konnte nur entstehen, weil es eine erfolgreiche Anti-Hitler-Koalition gab, der die damalige Sowjetunion angehörte; diese Koalition zerbrach dann mit dem Ausbruch des Kalten Kriegs. Heute braucht es erst einmal die Koalition gegen Putin, dessen Interesse es derzeit ist, Europa zu spalten und die EU zu erodieren. Und dann braucht es die Befreiung von der Feindbildmacherei, das gehört zur Weiterentwicklung des Friedensprojekts. Europa als Friedensstabilisator ist eine Zukunftsnotwendigkeit. Ein unkriegerischer Kontinent muss weitergebaut, geschützt, er muss immer wieder neu begründet und gegründet werden. Das ist wichtig, wenn es um das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland und zur Ukraine geht.

Die alarmistische Behauptung, dass sich Deutschland oder die Nato schon heute im Krieg mit Russland befinde oder dass dieser Krieg in Kürze bevorstünde, trifft nicht die Sache. Außenministerin Annalena Baerbock sagte 2023 im Straßburger Europarat missverständlich und martialisch zugleich: „We are fighting a war against Russia.“ Und René Obermann, Chef des Airbus-Verwaltungsrats und Rüstungslobbyist, hat soeben prophezeit, Putin könne die Nato schon deutlich vor 2029 angreifen. Eine Lagebewertung von BND und Bundeswehr hat zwar keinen Hinweis auf eine „unmittelbar bevorstehende Konfrontation mit der Nato“, prognostiziert aber Kriegsgefahr.

Grelle Rhetorik ist kontraproduktiv. Wenn man ihr gute Ziele unterstellt, soll sie so etwas wie ein Weckruf sein. Übertreibungen, auch gut gemeinte, sind schlecht. Sie schüren Panik und sie könnten eher herbeireden, was sie doch verhindern wollen.

Russland und Europa. Die Geografie lässt sich nicht ausblenden, die gemeinsame europäische Geschichte und die gemeinsame Kultur auch nicht. Es ist eine Geschichte von Anziehung und Abstoßung. Peter der Große stieß für Russland Tür und Tor nach Westeuropa auf, Gorbatschow der Große war da dreihundert Jahre später sein Nachfolger; in Russland ist er unbeliebt. Peter der Große begann im August 1697 eine Lehre als Schiffszimmermann in der Werft der Ostindischen Kompanie im holländischen Krummendijk. Die komische Oper „Zar und Zimmermann“ von Albert Lortzing handelt von dieser Lernbegierigkeit des Zaren; der Autor dieser Kolumne hatte beim „Notensingen“ im Rahmen seines Musikabiturs eine Arie aus dieser Lortzing-Oper zu singen. Daran erinnert er sich nicht gern, hat aber gelernt: Die russische Kultur gehört zur europäischen.

Ende der 50er-Jahre hoffte man auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon

Puschkin, Tolstoi, Dostojewski, Pasternak und Solschenizyn bereichern sie wunderbar; mit Puschkin, so schrieb einmal Christoph Stölzl, der vor zwei Jahren verstorbene Historiker und Museumsdirektor, sei die russische Literatur „auf Augenhöhe mit Goethe, Schiller und Heine, mit Byron und Shelley“ getreten. Stölzl hat Tschaikowsky einen „Vollender der europäischen Musik“ genannt, er hat auf die musikalische Kraft von Rimski-Korsakow, Skrjabin, Rachmaninow und Prokofjew, Strawinsky und Schostakowitsch verwiesen. Ihre Partituren werden von einem Putin nicht ausradiert. Der Osteuropa-Historiker Georg von Rauch fragte 1959, zwei Jahre nach der Gründung der damals kleinen EWG, ob denn nicht dieses europäische Erbe zu der Hoffnung berechtigte, „dass aus Kleineuropa wieder einmal ein Großeuropa wird“. Er hoffte, wie Gorbatschow es tat und auch Putin in seinen ganz frühen Jahren, auf ein gemeinsames Haus Europa und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon. Die französischen Präsidenten Charles de Gaulle und François Mitterrand haben Ähnliches vorausgedacht. Die Trump’sche Abkehr von Europa lässt einen wieder daran denken.

Das gegenwärtige Russland ist auf aggressiv antieuropäischem Kurs. Europa ist mehr als der Name eines Kontinents; es ist der Name für Demokratie und Menschenrechte. Putin führt auch deshalb Krieg gegen das vormalige Bruderland Ukraine, damit vor der Haustür kein rechtsstaatliches Gegenmodell entsteht. Russland lehnt die Idee der Rechtsstaatlichkeit ab, stellt seine angeblich traditionellen Werte wieder her, macht die russisch-orthodoxe Religion zu einer Art Staatsreligion, hält von Meinungsfreiheit und Zivilgesellschaft gar nichts. Europäische Selbstgefälligkeit und westlicher Dünkel bei der Auseinandersetzung damit sind nicht angezeigt. Solche Verblendungen gehören auch zur jüngeren Vergangenheit (und partiell auch zur Gegenwart) im sogenannten Westen. Putin-Russland konfrontiert diesen Westen mit dessen eigenen Abgründen. Der russische Ökonom und Soziologe Wladislaw Inosemzew sagt: Putin-Russland fliehe vor seiner Gegenwart, nicht vorwärts, sondern rückwärts.

Die Ukraine braucht einen Frieden mit Sicherheitsgarantien. Und Europa braucht dann einen Modus Vivendi zwischen Brüssel, Moskau und Kiew, eine Friedensordnung. Sicherheit ist nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben. Das meint der Begriff kollektive Sicherheit; er steht auch im Grundgesetz. Es geht um das Zusammenleben in Europa.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 27.03.2025 in der Süddeutchen Zeitung.