Die Partei leidet nicht nur an ihrem Parteichef und dessen Unseriösität. Sie leidet auch und vor allem an programmatischer Entleerung.
Kolumne von Heribert Prantl
Die FDP war einmal eine gescheite Partei. Dort (und in deren Friedrich-Naumann-Stiftung) stritten kluge Leute darüber, was den politischen Liberalismus ausmacht. Das spiegelte sich nicht unbedingt im politischen Alltag wider, aber das machte das Selbstbewusstsein dieser Partei und die Anziehungskraft aus, die sie bisweilen hatte. Das ist vorbei. Aus einer einst gescheiten Partei ist eine gescheiterte Partei geworden. Sie ist gescheitert an ihrem Vorsitzenden Christian Lindner.
Lindner hat das schöne Wort „Freiheit“, das für die FDP ein Kernwort war, entkernt und veralbert: Lindner definierte seine und die Freiheit seiner Partei als Freiheit von Verantwortung, Freiheit von Anstand, Freiheit von Pflichtgefühl. Die Art und Weise, wie der FDP-Parteichef den Ausstieg aus der Ampelkoalition inszenierte, gehört zu den Tiefpunkten in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Es war dies eine infame Flegelei, über die der Wahlkampf nicht einfach hinwegrollen wird. Die FDP, eine Partei, die zur guten demokratischen Grundausstattung des Landes gehört, ist nachhaltig diskreditiert.
Das wird sich nicht ändern, solange Lindner Parteichef ist, weil er die Partei so auf sich zugeschnitten hat wie noch kein FDP-Chef vor ihm – auch Guido Westerwelle nicht. Lindners verstorbener Vorvorgänger wurde einst von Edmund Stoiber als „politischer Leichtmatrose“ bespöttelt. Verglichen mit Lindner war er aber ein Kapitän, selbst wenn er in die falsche Richtung fuhr. Der Koalitionsbruch im Herbst 2024 war ja nicht das erste Mal, dass Lindner mit tückischer Unsolidität aufgefallen ist; das war schon so, als er 2017 die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition aus Jux und Tollerei platzen ließ. Linder ist unseriös.
Die FDP wiegt nur noch ein halbes Lot
Lindner hat das lange erfolgreich kaschieren können. Er hat die FDP, nachdem sie 2013 unter Führung des etwas täppischen Philipp Rösler aus dem Bundestag geflogen war, mit Raffinesse, Selbstbewusstsein und Lässigkeit wieder kraftvoll in den Bundestag geführt. Die Attitüde war stark, die Inhalte waren es nicht. Aber die Attitüde war so stark, dass man das nicht gemerkt hat – bis er Finanzminister wurde. Seitdem sind die Wahlergebnisse der FDP desaströs; die FDP ist eine verhungernde Partei geworden. Sie leidet an programmatischer Entleerung; sie wiegt nur noch ein halbes Lot. Der lindnerisierten FDP fehlt jeglicher inhaltlicher Tiefgang; das lässt sich mit dem formelhaften Lobpreis der Schuldenbremse nicht verbergen; die ist und ersetzt kein Zukunftsprogramm. Und ein Papier, das den Autos wieder mehr und Fußgängerzonen weniger Raum geben will, so wie es die FDP im August präsentierte, ist von solcher Dürftigkeit, dass man darüber gar nicht reden muss. Was erinnert heute noch an eine FDP, der einst Leute wie die Bildungspolitikerin Hildegard Hamm-Brücher oder ein Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf Haltung und Rückgrat gegeben haben? Was erinnert an eine FDP, in der ihre Rechtspolitiker mit den CDU/CSU-Innenministern um die Rechtsstaatlichkeit gerungen und diese in Karlsruhe erfolgreich eingeklagt haben?
Die FDP erlebt nach dem Koalitionsbruch eine Welle der öffentlichen Ablehnung und der Verachtung. Gewiss: Es gab immer wieder Zeiten, in denen jeder Esel dieser Partei, zu deren Verdiensten es gehört, den politischen Wandel in der Republik moderiert zu haben, einen Tritt gegeben hat. Zu den Mitteln, mit denen sich die Partei dann aus Tristesse und Gefahr befreite, gehörte zweimal ein neues, aufsehenerregendes Grundsatzprogramm; alle anderen FDP-Programme kann man vergessen.
Das erste, das Freiburger Programm von 1971, war eine politische Sensation. Es war, so auch der Titel, „Noch eine Chance für die Liberalen“. Es las sich im Öko-Teil so, als habe es der Club of Rome geschrieben: Es war das erste Parteiprogramm, das einen Abschnitt zum Umweltschutz enthielt und ihm „den Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen“ einräumte. Der Wirtschaftsliberalismus wurde in diesem Freiburger Programm durch einen gesellschaftspolitischen Reformliberalismus abgelöst. Gefordert wurde, das klingt bis heute unerhört für die FDP, eine „Reform des Kapitalismus“. Aber der geniale Schöpfer dieses Programms, der damalige FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach, starb schon 1973; und die Wirtschaftsliberalen sorgten dann dafür, dass die frühe grüne Saat zwar in Erinnerung blieb, aber in der Praxis verdorrte.
Guido Westerwelle propagierte den Neoliberalismus
Als alles komplett dürr war, entwickelte und propagierte Guido Westerwelle ein Gegenprogramm zu Karl-Hermann Flach und seinem Reformliberalismus, die „Wiesbadener Grundsätze“; dieses zweite, ebenfalls aufsehenerregende Programm, deklinierte den Neoliberalismus konsequent durch; es popularisierte die Privatisierung von Staatsleistungen und hatte für das Gemeinwohl und den Sozialstaat nichts übrig. Westerwelle machte das mit so viel Show, mit Trara und Tamtam, dass das ein paar Jahre lang enorme Strahlkraft und politische Wirkung hatte; es beeindruckte selbst die Gerhard-Schröder-SPD. Westerwelle propagierte die FDP als „Partei der Leistungsbereiten“ und tat so, als sei jeder, der die FDP wählt, einer von diesen.
Als das nicht mehr zog, kam Lindner; zuerst als Generalsekretär, dann als Parteichef. Von ihm erhoffte sich Gerhart Baum, der letzte der großen Alten der FDP, eine Politik, die aus dem wirtschaftsliberalen Gefängnis wieder ausbricht, und eine Politik, die Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit neu buchstabiert. Die Hoffnung war vergeblich; Lindner konnte und kann dieses Buchstabieren nicht. Früher hatten die Liberalen den Einzelnen gegen die Macht des Staates verteidigt; wer sich erwartet hat, dass sie ihn nun gegen den neuen Leviathan, gegen die Macht des globalisierten Finanz- und Digitalmarkts verteidigt, sah und sieht sich enttäuscht. Lindner ist kein Grundsatzpolitiker, er ist auch kein Stratege; er ist ein Taktiker und ein Spieler. Das von ihm hervorgebrachte Parteiprogramm ist kein Programm, sondern eine Instant-Brühe aus smarten Floskeln und dünnen Sprüchen.
Kurt Tucholsky hat einst geschrieben, dass es eines Tages wieder sehr modern sein wird, liberal zu sein. „Dann wird einer kommen, der wird eine geradezu donnernde Entdeckung machen: Er wird den Einzelmenschen entdecken. Und ob der glücklich ist, das ist die Frage. Dass er frei ist, das ist das Ziel. … Die Leute werden sagen: Welch ein Mut!“ Lindner ist dieser Eine nicht. Er erzeugt nicht Mut, sondern Missmut.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 21.11.2024 in der Süddeutchen Zeitung.