Das gescheiterte Verbot des rechtsextremen Magazins „Compact“ ist kein Argument gegen einen AfD-Verbotsantrag. Im Gegenteil.
Das Bundesverwaltungsgericht hat ein Verbot des rechtsextremen Magazins Compact mit der Begründung abgelehnt, die verfassungsfeindlichen Äußerungen und Aktivitäten dort seien „noch“ nicht prägend genug. Jürgen Elsässer, der Verleger des Magazins, hat daraufhin jubiliert: „Wenn es unmöglich ist, Compact zu verbieten, dann ist es auch nicht möglich, die AfD zu verbieten.“ Das ist falsch. Erstens ist für das Parteiverbot nicht das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, sondern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zuständig. Zweitens gelten bei einem Parteiverbot andere Kriterien; es sind da auch die ganz besonderen Gefahren zu berücksichtigen, die sich aus der Eigenschaft, der Rolle und der Bedeutung einer Partei im politischen Betrieb ergeben. Und drittens ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Ergebnis ohnehin falsch; das ergibt sich aus dessen eigener Begründung.
Was würden Sie von einem Arzt halten, der nach gründlicher Untersuchung zum Ergebnis kommt: „Ja, Sie haben Krebs, aber der ist noch nicht schlimm genug, der ist noch nicht im Endstadium. Mit der Behandlung, mit Chemo und Bestrahlung warten wir daher noch.“ Wir würden uns doch sehr wundern, wir wären ungläubig, wir wären empört – und das sehr zu Recht. Das wäre Körperverletzung durch Unterlassung, das wäre womöglich Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassung. Genauso ist aber das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Compact zu bewerten.
Der Senatsvorsitzende Ingo Kraft trug in seinem Urteil viele Gründe für ein Verbot dieses Hetzorgans vor. Er zählte die bösen Befunde auf; der böseste Befund war das ständige Werben des Blattes für das sogenannte Remigrationskonzept des Extremisten Martin Sellner, eines ständigen Autors des Blattes; dieses Remigrationskonzept ist ein Deportationskonzept. Es ist verfassungsfeindlich, es verstößt massiv gegen die Menschenwürde, weil es Hunderttausende Menschen aufgrund ethnischer Merkmale abwertet und aus dem Land schaffen will. Das Gericht bescheinigt Compact, dass es diese Vorstellungen in kämpferisch-aggressiver Weise umsetzen will. Zu einem Verbot hat es sich unverständlicherweise trotzdem nicht entschlossen.
Ein Freispruch klingt anders
Das Bundesverwaltungsgericht kassiert das Verbot des rechtsextremen Magazins „Compact“ ein. Aber es hält fest: Mit Menschenwürde und Demokratie ist das Konzept der „Remigration“ unvereinbar.
Das Gericht hat nicht verstanden, was wehrhafte Demokratie ist. Wehrhafte Demokratie heißt nicht: abwarten, bis es zu spät ist. Wehrhafte Demokratie heißt nicht: Warten wir noch auf ein paar neue Metastasen. An der Spitze der Werte der Verfassung steht die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Wenn eine Zeitschrift, wenn eine politische Partei diese Werte verhöhnt, wenn sie die Menschenwürde ethnisch definiert, wenn sie Feindschaft sät, wenn sie Hass und Rassismus predigt – dann ist sie verfassungsfeindlich, dann muss sie verboten werden.
Es geht darum, die Vergiftung der Gesellschaft zu verhindern
Die häufigsten Vergiftungen sind die Medikamentenvergiftung, die Alkoholvergiftung, die Kohlenmonoxidvergiftung und die Lebensmittelvergiftung. Die gefährlichste Vergiftung ist bei dieser Aufzählung noch nicht dabei: Am gefährlichsten ist die politische Vergiftung. Sie bedroht nicht nur das Leben Einzelner; sie bedroht die ganze Gesellschaft. Sie zu verhindern – darum geht es bei einem AfD-Verbotsverfahren.
Aber wenn die doch gewählt werden, aber wenn die doch so prozentstark gewählt worden sind! So wird immer wieder in den Diskussionen über ein Parteiverbot gesagt – gerade so, als sei eine Wahl die Rechtfertigung für alles; gerade so, als sei die Demokratie nicht mehr als eine Kiste, 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit, in die alle paar Jahre die Leute ihre Stimme einwerfen. Demokratie ist aber mehr als eine Urne; sie ist eine Wertegemeinschaft. Diese Werte stehen im Grundgesetz, zualleroberst der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Er hat Auswirkungen darauf, wie der Verfassungsstaat mit denen umgehen soll, die dieses höchste aller Grundrechte verachten. Die Menschenwürde steht nicht unter einem Prozentvorbehalt von zwanzig, dreißig oder mehr Prozent für eine Partei, die sich aussucht, welche Menschen sie für würdig halten will. Im Gegenteil: Je stärker eine Partei ist, die die Menschenwürde angreift, desto wichtiger ist es, die Waffen der wehrhaften Demokratie zu entrosten.
Man kann das Verfahren so gründlich vorbereiten, dass die Erfolgschancen sehr hoch sind
Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. So steht es in dem politischen Testament, das die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Terrors geschrieben haben. Man sollte dieses Testament, das Grundgesetz, achten, indem man es ernst nimmt; das ist Befreiung im Jahr 2025. Eine lebendige Demokratie braucht Selbstbewusstsein; dazu gehört das Verbotsverfahren gegen die AfD. Natürlich gibt es in Karlsruhe keine absolute Erfolgsgarantie. Aber man kann dieses Verfahren so gut und gründlich vorbereiten, dass die Chancen sehr hoch sind; der Parteitag der SPD hat das soeben einstimmig so beschlossen.
Die AfD ist eine Partei i. V. – eine Partei in Verwandlung. Sie wurde immer größer und zugleich immer radikaler. Sie verwandelte sich seit ihrer Gründung vor zwölf Jahren, näherte sich aber mehr und mehr dem final-gefährlichen, extremistischen Stadium. Die Parteifarbe ist blau; das finale Stadium ist – braun. Im neuen Bundestag sitzt die AfD als zweitstärkste Fraktion mit 152 Abgeordneten, darunter bekennende Neonazis. Aus einer ursprünglich rechtsbürgerlichen Partei wurde eine nationalfaschistische; aus einer Rechts-außen-Partei eine Rechts-draußen-Partei. Die AfD rückte so dramatisch schnell nach rechts draußen, dass AfD-Radikale von gestern sich heute auf einmal in der Mitte der AfD wiederfinden. Vier der bisherigen Vorsitzenden – Bernd Lucke (2013 bis 2015), Konrad Adam (2013 bis 2015), Frauke Petry (2013 bis 2017) und Jörg Meuthen (2015 bis 2022) – haben die Partei wegen deren Radikalverwandlung verlassen. Alice Weidel und Tino Chrupalla, die derzeitigen Vorsitzenden, die sich soeben von der AfD-Fraktion eine Verdoppelung ihrer finanziellen Zulagen haben genehmigen lassen, sind die Protagonisten der finalen Radikalisierung.
Das Bundesverfassungsgericht wird ihnen sagen: Zu den Freiheiten der Demokratie gehört es nicht, die Demokratie und ihre Grundwerte umzubringen. Es geht beim Verbotsverfahren darum, selbstbewusst demokratisch zu sein. Es wird ein Aufatmen geben.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 03.07.2025 in der Süddeutschen Zeitung.