Der Erfolg der extrem rechten Partei macht Gesinnungen sichtbar, die immer schon da waren. Die Republik lernt gerade, dass nichts sicher ist.

 

 

 

Kolumne von Heribert Prantl

 Im bayerischen Kelheim, hoch über der Donau, steht die Befreiungshalle. Nach langen Gerichtssitzungen bin ich da, es ist lange her, gern hinaufspaziert; damals war ich, es war vor meiner Journalistenzeit, ein paar schöne Jahre lang Richter am dortigen Amtsgericht. Diese Befreiungshalle kommt mir in den Sinn, wenn ich als politischer Kommentator zu den Jahrestagen der Befreiung schreibe – also zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar und zum Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai. Die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager durch die Soldaten der alliierten Truppen, die Befreiung von der NS-Herrschaft, die Befreiung vom Grauen des Zweiten Weltkriegs ist jetzt achtzig Jahre her. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Hauptquartier von US-General Dwight D. Eisenhower im französischen Reims die Urkunde mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Die Zeremonie wurde am folgenden Tag im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt; dort unterschrieb Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht. In Russland wird dieser Tag als Feiertag begangen.

Die Befreiungshalle über der Donau wurde freilich nicht in den Jahren nach 1945 zur Erinnerung an den 7. und 8. Mai 1945 gebaut. Sie wurde gebaut von 1842 bis 1863 zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Hätte jemand in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hier eine Befreiungshalle zur Erinnerung an Niederlage und Kapitulation errichten wollen – er wäre ins Narrenhaus gebracht worden. Die Deutschen haben aber dann gelernt, dass die Niederwerfung Hitler-Deutschlands wirklich ein Tag der Befreiung von Unrecht und Tyrannei war. Bundeskanzler Ludwig Erhard sprach zum zwanzigsten Jahrestag in einer Rundfunk- und Fernseherklärung davon. Und zum vierzigsten Jahrestag hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bundestag seine denkwürdige Rede, in der er den 8. Mai als den „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnete.

Zwischen der Vergangenheitsflucht der Fünfziger- und Sechzigerjahre und dem Heute liegen viele Jahre, in denen die vielen Defizite der Vergangenheitsbewältigung eingestanden wurden und in denen nachgeholt wurde, was nachholbar war. 1995, fünfzig Jahre nach Kriegsende, legte der Bundesgerichtshof ein Geständnis ab und distanzierte sich von seiner bisherigen Rechtsprechung: „Eine Vielzahl ehemaliger NS-Richter hätte wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen.“ Im Jahr 2005, sechzig Jahre nach Kriegsende, wurde in Berlin das Holocaust-Mahnmal eröffnet. Es ist dies ein ganz besonderes Befreiungsdenkmal: Die eigene Täterschaft ist im historischen Gedächtnis der Deutschen aufgenommen worden. Das „Nie wieder“ ist verankert im Zentrum der Hauptstadt. Es spricht aus jeder der 2710 Stelen des Mahnmals.

Die AfD hat Deutschland ungut verändert

Und doch – kein Gedenken ist felsenfest. Zum achtzigsten Jahrestag der Befreiung sitzt im Bundestag als zweitstärkste Fraktion eine Partei, in der die Hitlerei eine Heimstatt hat, in der NS-Gräuel verharmlost werden, in der die Befreiung von der Befreiung betrieben und mit alten braunen Gemeinheiten kokettiert wird; gewiss nicht von allen, aber von vielen dort. Das Gold in den deutschen Farben wird braun. Mitglied der neuen Fraktion ist ein Matthias Helferich, der sich selbst als „das freundliche Gesicht des NS“ bezeichnet; Mitglied der neuen Fraktion ist Maximilian Krah, der die Waffen-SS verteidigt hat. Mitglied der neuen Fraktion sind die Vertrauten des Rechtsextremisten Björn Höcke aus Thüringen, der den völkischen Flügel der AfD anführt, vom tausendjährigen Reich schwadroniert und das Holocaust-Mahnmal als „Schande“ bezeichnet hat. Nationalistisches Getöse findet in dieser Partei immer mehr Echo, auf ihren Versammlungen wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt und Muslime verspottet werden. Abgeordnete dieser Partei fallen bei Gedenkfeiern dadurch auf, dass sie sich dem Gedenken entziehen, manchmal feixend, immer trampelnd nationalistisch und selbstgerecht. Der Ehrenvorsitzende der Partei hat die NS-Bestialität als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet.

Die AfD ist eine Partei, die es erst zwölf Jahre gibt, die aber in dieser Zeit immer radikaler und immer nazistischer wurde. Die AfD rückt immer mehr dorthin, wo einst, weniger erfolgreich, die neonazistische NPD ihren Platz hatte. Warum schreckt das die Wähler nicht ab? Wer AfD wählt, erlebt, dass seine Stimme mehr Gewicht hat; sie hat Schockkraft. Im Osten der Republik ist es so, dass der einst von der DDR proklamierte Antifaschismus kaum Spuren hinterlassen hat. Die AfD potenziert dort den alten Einheitsfrust mit Gehässigkeiten gegen Flüchtlinge.

Vor achtzig Jahren wurden die Häftlinge der Konzentrationslager befreit – Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Flossenbürg, Dachau und viele andere. Über eine Million Menschen wurden allein in Auschwitz ermordet. Die Häftlinge, die überlebt hatten, wurden befreit von ihren Peinigern, aber nicht von dem Grauen, das sie erlebt hatten. Man wünschte, dass sich Deutschland in den acht Jahrzehnten seitdem vollends befreit hätte vom Fremdenhass und Nazismus. Wer in den neuen Bundestag schaut, in dem die AfD jetzt in doppelter Stärke sitzt, wer in die Landesparlamente schaut, der weiß: Es ist leider nicht so.

Die AfD hat Deutschland ungut verändert. Gewiss: Sie hat auch sichtbar gemacht, was vorher schon da war – Rassismus und Antisemitismus, den nur als „Bodensatz“ zu bezeichnen falsch war und ist. Vieles ist jetzt nicht nur sichtbar, sondern auch sagbar geworden. So mancher, der sich vorher zähmte, tut es jetzt nicht mehr; er lässt die Sau raus. Der neobraune Ungeist hat die Netzwerke verlassen, er ist in fast alle Parlamente eingezogen; er versucht, Druck aufzubauen in Schulen, Theatern und Vereinen – zumal in den neuen Bundesländern.

Deutschland lernt: Das Sichere ist nicht sicher. Auch das Lernen aus der Vergangenheit muss man lernen, immer und immer wieder.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 27.02.2025 in der Süddeutchen Zeitung.