In Deutschland herrscht postcoronale Tristesse: Aufarbeitung wird versprochen, aber nicht praktiziert. Es geht aber darum, die verlorene Sicherheit im Recht wiederzugewinnen.
Kolumne von Heribert Prantl
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger so massiv eingegriffen worden wie in den drei Corona-Jahren. Noch nie wurden die Grundrechte so sehr geschmälert, verkleinert, ausgesetzt und eliminiert wie in dieser Zeit. Der Ausnahmezustand war da, ohne dass er ausdrücklich ausgerufen worden war; aber er wurde vom Staat penibel überwacht und exekutiert. Bei der Rückabwicklung und der Aufarbeitung dieses Ausnahmezustands fehlt diese Penibilität. Einschlägige Paragrafen und Gesetze sind immer noch coronageprägt.
Im Infektionsschutzgesetz „sieht es aus wie nach einer Party, von der die Gäste abgehauen sind, ohne aufzuräumen“. So beschreibt das Thorsten Kingreen, Professor für Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Es herrscht so etwas wie postcoronale Tristesse, es herrscht eine latente Unlust, sich mit Corona und mit den echt oder vermeintlich alternativlosen Entscheidungen dieser Zeit zu beschäftigen. Es sei halt „eine schwierige Zeit“ gewesen, heißt es.
Die größten Meister des Wegschiebens sind diejenigen Politikerinnen und Politiker, die in der Corona-Zeit die schärfsten Maßnahmen propagiert und angeordnet haben. Deswegen ist bisher aus den Überlegungen nichts geworden, Untersuchungsausschüsse oder Enquete-Kommissionen einzurichten; das wäre aber wichtig, um die alten Fehler nicht künftig zu wiederholen, um also für die nächste Krise zu lernen – zum Beispiel dies: Auch die Not kennt ein Gebot, nämlich das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Viele Politiker von CDU/CSU, SPD und Grünen tun so, als müsse jetzt Gras wachsen über die Corona-Zeit.
Die Feiern zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes haben es daher tunlichst vermieden, über die Ausgangssperren, die Abstandsgebote, die Kontaktbeschränkungen und die Maskenpflichten zu reden, über die Schul- und Kindergartenschließungen, über all die Gottesdienst-, Demonstrations- und Versammlungsverbote, über die Betriebsuntersagungen und die Isolierung der Alten in den Altersheimen. Es hätte dies wohl die Feiern getrübt, weil man sich dann hätte eingestehen müssen, dass der Rechtsstaat in den Krisenjahren nicht funktioniert hat. Es geht auch die Furcht um, dass mit der Arbeit von Untersuchungskommissionen der Zorn, die Wut und die Giftigkeiten der Corona-Jahre neu entfacht werden und dies die Mühlen von AfD und BSW antreiben könnte. Das ist falsch. Diese Mühlen werden angetrieben nicht von Aufarbeitung, sondern von der Nichtaufarbeitung.
Als in den vergangenen Wochen die sogenannten RKI-Protokolle, also die Protokolle des Robert-Koch-Instituts zur Corona-Pandemie erst geschwärzt, dann ungeschwärzt publik geworden sind, war in den sozialen Medien von aufgedeckten Lügen und Skandalen die Rede. Es gibt gewiss delikate Stellen in diesen Gesprächszusammenfassungen der RKI-Expertenrunden. Vor allem aber offenbart sich auf mehreren Tausend Seiten immer wieder, was man eigentlich weiß: Es handelt sich bei diesem Institut um eine Behörde, die der Aufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit untersteht und deren Erkenntnisse politisch entweder umgangen oder aber passend gemacht und eingebettet werden können.
Vorbei und vergessen? Das ist ein schlechter Rat
Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass das RKI dem Gesundheitsminister nicht ins Wort gefallen ist, als der von einer „Pandemie der Ungeimpften“ geredet hat, um so eine Impfpflicht durchzusetzen (die dann glücklicherweise doch nicht gekommen ist). Aber so hat es der Minister erreicht, dass Ungeimpfte damals für Monate fast vollständig aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Vorbei und vergessen? Das ist ein schlechter Rat. Es geht bei der Aufarbeitung der Corona-Jahre auch darum, eine Kommunikation zu lernen, die die Gesellschaft in einer Krise nicht spaltet und vergiftet.
Die Auseinandersetzung mit der Corona-Zeit, um die die Staatsgewalten einen weiten Bogen schlagen, leistet die Wissenschaft, zumal die Rechtswissenschaft. Soeben ist im Verlag Nomos eine Pionierarbeit der Juristin Patricia Altenburger erschienen. Sie heißt: „Dispensierter Rechtsstaat?“ Die Autorin setzt zwar ein Fragezeichen hinter ihren Titel, aber dieses Fragezeichen verwandelt sich bei der Lektüre in ein Ausrufezeichen. Patricia Altenburger konzentriert sich auf Bayern, sie kapriziert sich auf die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Sie legt eindrucksvoll dar, wie sich sowohl der Verfassungsgerichtshof in München als auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aus der Corona-Krise herausgehalten, wie diese Gerichte sich den Rechtsschutzerwartungen der Bürger entzogen haben. Und sie analysiert die Techniken, mittels derer es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vermied, die angegriffenen Maßnahmen aufzuheben, sie schildert, wie der Ball zwischen dem Gericht und der Staatsregierung hin- und hergespielt wurde. Einzig den normalen Verwaltungsgerichten attestiert die Juristin, „krisenresilient“ geblieben zu sein. Deshalb wohl wurden die Verwaltungsgerichte dann auch mit dem Bundesnotbremsen-Gesetz ausgebremst.
Wenn sich hohe Gerichte verweigern
Es handelt sich um eine glänzende Doktorarbeit, die von der Universität Regensburg mit „summa cum laude“ bewertet wurde. Alex Graser, Professor für Öffentliches Recht und Politik, der die Dissertation betreut hat, schreibt in seinem Gutachten: „Einerseits wird hier schonungslos decouvriert, andererseits nicht vorschnell verurteilt.“ Es finde hier „das tiefempfundene rechtsstaatsorientierte Unbehagen ebenso Ausdruck wie die Einsicht in infektionspolitische Pragmatismen“.
Als Pragmatismus kann man es freilich weder abhaken noch entschuldigen, wie die höchsten Gerichte in Bayern und im Bund mit oberflächlichen Grundrechtsprüfungen und pauschalen Gefahrenbeurteilungen sich ihren Aufgaben verweigerten. Die Wissenschaftlerin wirft dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof vor, „unsichtbar“ geblieben und sich nicht am Recht, sondern an der Staatsräson orientiert zu haben. Und auch das Karlsruher Bundesverfassungsgericht habe sich nicht hütend vor die Verfassung gestellt. Anders formuliert: Es hat versagt.
Das sind klare Worte. Solche Klarheit in Analyse und Bewertung wünscht man der Aufarbeitung der Corona-Krise insgesamt. Es muss gelingen, die Sicherheit im Recht wiederzugewinnen.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 22.08.2024 in der Süddeutchen Zeitung.