Sozial ist, wenn der Alltag für alle funktioniert. Das sollte der Bundeskanzler würdigen, statt herablassend darüber zu sprechen.
Es gilt zurechtzurücken, was Friedrich Merz verrückt hat. Diese Zurechtrückung geht so: Der Sozialstaat ist etwas Anständiges, nicht etwas Unanständiges. Der Sozialstaat ist nicht Kropf und Schmerbauch, sondern Herz und Seele der bundesdeutschen Demokratie. Der Sozialstaat ist auch nicht der Watschenbaum des Bundeskanzlers. Es ist daher ein schlechter Start für einen „Herbst der Reformen“, herablassend über den Sozialstaat zu reden und so zu tun, als müsse man da, à la Trump, mit schwerem Gerät rangehen. Der Sozialstaat braucht Pflege, nicht Misshandlung. Er braucht pointierte und fokussierte Stärkung: Das betrifft Arbeit und Einkommen, Alter und Rente, Kita und Schule, Bahn und Nahverkehr. Sozial ist nicht, wenn man daran spart. Sozial ist, wenn eine Vermögensteuer das alles mitfinanziert.
Es wäre daher gut, wenn Merz zum Auftakt seiner Reformen mit Respekt über Wesen und Wert des Sozialstaats reden würde. Es muss ja nicht gleich eine Liebeserklärung sein, wie sie der im Jahr 2020 verstorbene CDU-Sozialpolitiker Norbert Blüm gemacht hätte. Aber eine Kanzler-Rede, die Achtung und Würdigung ausdrückt, wäre schon nicht schlecht: Es geht ja bei der Sozialstaatlichkeit um ein fundamentales Verfassungsprinzip. Es ist durch die „Ewigkeitsklausel“ des Artikels 79 Absatz 3 Grundgesetz sogar als unabänderlich geschützt. Das meint nicht, dass man ewig über die angebliche Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats lamentieren soll. Zwar macht das Sozialbudget inzwischen ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Aber der Sozialstaat frisst dieses Budget ja nicht auf, sondern er teilt es aus, sorgt auch für Fortkommen und notfalls für Einkommen, mit dem dann gekauft wird, was Unternehmen anbieten.
Ein partieller Lockdown des Sozialstaats aus finanziellen Gründen wäre der Einstieg in die Verwahrlosung des öffentlichen Raums. Man kann Wut, Zorn und Unruhen auch herbeisparen. Es ist schon jetzt zu wenig Geld da für Kinder- und Jugendförderung; zu wenig Geld für eine Kindergrundsicherung, die diesen Namen verdient. Fast jeder weiß es, aber dieses Wissen tropft auf einen heißen Stein: Jedes siebte Kind in Deutschland ist arm oder armutsgefährdet, das sind mehr als zwei Millionen Kinder unter 18. Aufwachsen in Armutsnähe begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben. An Kindern und Familien zu sparen, an Kitas und Spielplätzen, an Schulen und Jugendzentren – das sind Einsparungen, die das Land teuer zu stehen kommen werden.
Wenn Merzianer sich darauf berufen, dass der Staat nun mal kein Schicksalskorrektor sein könne, dann werden sie sich womöglich auf einen reichlich unverschämt klingenden Satz in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2014 berufen. Da heißt es: „Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko.“ Das klingt wie eine Einladung an den Sozialstaat, fünfe gerade sein zu lassen. So war der Satz aber nicht gemeint. Er ist in einem völlig anderen Kontext gefallen: Es ging um die Entziehung des Sorgerechts. Der Satz besagte, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten der Eltern nicht zu einer Fremdunterbringung des Kindes führen dürfen. Es gibt ein Recht des Kindes auf Familie, soziale Sicherheit und angemessenen Lebensstandard. Dafür muss der Sozialstaat sorgen.
Das Schicksal teilt ungerecht aus, es bedarf einer sozialstaatlichen Korrektur
Die reichere Familie hat sich niemand verdient, die besseren Gene auch nicht, das krankheitsfreie Leben auch nicht. Das Schicksal hat das zugeteilt: Es teilt ungerecht aus. Hier hat eine fürsorgliche, sozialstaatliche Gesellschaft ihre Aufgabe. Es geht um Schicksalskorrektur. Kurze Beispiele: Johannes ist ein Wunschkind, sein Zimmer ist fertig ausgestattet, schon zwei Monate, bevor er zur Welt kommt. Nach der Geburt umsorgen ihn Eltern und Großeltern. Chantal ist im Drogenrausch gezeugt, Vater unbekannt. Sie liegt oft stundenlang im eigenen Dreck und schreit vor Hunger. Wenn dem Freund ihrer Mutter die Geduld ausgeht, schüttelt er sie. Borys hatte sein Zuhause, sein Zimmer, sein Bett, sein Spielzeug, dann rollten die Panzer, und seine Eltern packten ihn und flohen ins Ungewisse. Und schließlich Johanna: Sie war Schulbeste im Sport; sie hat wunderbar Geige gespielt. Dann kam die Krankheit, dann kam der Krebs. Die Chemotherapie hat ihre Gelenke zerstört. Sport? Geht nicht mehr! Geige spielen? Geht auch nicht mehr. Corona hat schließlich Johanna komplett aus der Bahn geworfen.
Schicksal, sagen da manche. Das Leben sei halt kein Wunschkonzert. Aber Schicksal ist keine Entschuldigung fürs Nichtstun, sondern eine Aufgabe für die Gesellschaft. Natürlich gibt es kein Recht auf ein perfektes Leben. Aber es gibt ein Recht auf Hilfe, einem elenden Schicksal zu entkommen. Das ist das Bewusstsein, das lebendig sein und bleiben muss. Ludwig Erhards Motto „Wohlstand für alle“ war das Aufstiegsmotto der Bundesrepublik. Es verband marktwirtschaftliche Effizienz mit sozialem Ausgleich. Der Erfolg von Friedrich Merz und die Zukunft der deutschen Demokratie hängen davon ab, ob es gelingt, Ludwig Erhards Motto Jahrzehnte später fortzuschreiben.
Arbeit muss weniger und die wirklich großen Vermögen müssen mehr belastet werden
Eigentum verpflichtet, heißt es im Grundgesetz. Es verpflichtet dazu, mit diesem Reichtum spürbar zur Zukunftssicherung beizutragen. In kaum einem anderen Land der Welt wird der Faktor Arbeit so hoch besteuert; die Lohnsteuerzahler finanzieren heute den Sozialstaat. Arbeit muss weniger und die wirklich großen Vermögen müssen mehr belastet, die zum Teil abenteuerlichen Wertsteigerungen bei Grund und Boden abgeschöpft werden. Die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, auch die Wählerschaft der CDU/CSU, beklagt in Umfragen die Verteilung des Wohlstands in Deutschland als ungerecht. Aber es passiert nichts, gar nichts, um das zu ändern. Eine steuerliche Entreicherung der Superreichen ist nicht Klassenkampf, es ist ein Kampf um die Demokratie.
„Lebenswert ist, wenn der Alltag läuft“, das plakatiert die FDP im Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Die FDP hat es nicht so mit dem Sozialen, aber man kann das Wort „lebenswert“ durch „sozial“ ersetzen: Sozial ist, wenn der Alltag funktioniert. Dafür gibt es die Sozialpolitik.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 04.09.2025 in der Süddeutschen Zeitung.