Vor 50 Jahren begann der Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Die schweren Fehler, die in seinem Verlauf gemacht wurden, wirken bis heute nach.

Guerilleros besetzen das Land. Terroristen besetzen das Denken; sie verseuchen den Geist der Gesetze. Terroristen treiben mit ihren Attentaten die Parlamente dazu, Grundrechte einzuschränken. Sie bringen die Sicherheitsorgane dazu, an der Grenze der Legalität oder jenseits davon zu operieren; und sie verleiten den Gesetzgeber, vergiftete Paragrafen zu produzieren. Terroristen nehmen so beherrschenden Einfluss auf die Institutionen, in denen das Recht produziert, und auf die Behörden, in denen es angewendet wird. In der Bundesrepublik Deutschland begann diese Entwicklung vor fünfzig Jahren, als im Stammheim-Prozess gegen die erste Generation der RAF verhandelt wurde – gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.

„Was hier stattfindet in diesem Verfahren, das kann man nicht anders benennen als die systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien“, klagte damals ein RAF-Verteidiger namens Otto Schily; es war am 185. Verhandlungstag. Später freilich, als es um den islamistischen Terrorismus ging, hat der Bundesinnenminister Schily selber schärfste Gesetze durchgesetzt. Damals, vor fünfzig Jahren, gab es heftigste Auseinandersetzungen zwischen den Verteidigern, den Anklägern und dem Gericht. Der Staat und seine Organe fühlten sich im Ausnahmezustand, und so wurden die Prozesse in Stammheim auch geführt: als Notwehraktion des Staats gegen die RAF, immer wieder jenseits der Strafprozessordnung, mit dem Ausschluss der Verteidiger und mit ihrer akustischen Überwachung. Das Prozessklima war katastrophal. Ein Ort der Aufklärung von Verbrechen wurde Stammheim nicht.

Man sprach von der bleiernen Zeit damals. Bleiern – das war ein Wort der Trostlosigkeit und Hilflosigkeit. Während der Prozess lief, wurden der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ermordet und die Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu entführt; der Versuch der RAF, die Gefangenen freizupressen, misslang. Der Prozess endete ohne rechtskräftiges Urteil mit dem Suizid der Angeklagten.

Stuttgart-Stammheim hätte ein wegweisender Prozess dafür werden können, was und wie innere Sicherheit sein muss: Sie ist die Fähigkeit, ruhig zu entscheiden und ruhig zu urteilen – auch wenn es um monströse Verbrechen geht. Stattdessen wurde aus dem Prozess eine teure juristische Farce; der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing rühmte sich später, dass er auf das eigens für Stammheim geschnürte Paket von scharfen Sondergesetzen gegen die Angeklagten und ihre Verteidigung erheblichen Einfluss genommen habe. Was als Quasi-Notstandsrecht zur Bekämpfung der RAF begonnen hatte, wurde zum rechtlichen Standard. Das als Blitzgesetz beschlossene Kontaktsperregesetz ist ein Exempel. Es konnte und kann damit nicht nur jede Verbindung der Gefangenen untereinander, sondern auch die mit der Außenwelt einschließlich der Verteidiger unterbrochen werden. Es war erster Höhepunkt einer Kaskade von Gesetzen: Das Anti-RAF-Notstandsrecht wurde zum Fundament für die Antiterrorgesetze nach den Al-Qaida-Anschlägen in New York und Washington am 11. September 2001.

Die Angst vor dem Terrorismus löst Reaktionen aus, vor denen man Angst haben muss

Wenn man Terrorismus kleinkriegen will, muss man es den Milieus, von denen er abhängt, schwermachen; man darf es nicht leichtmachen, ihn gut zu finden. Nicht zuletzt die Entwertung rechtsstaatlicher Garantien in den RAF-Prozessen und die Kriminalisierung einer großmäulig-kindischen Sympathisantenszene (es wurden Haftstrafen verhängt nur für das bloße Pinseln eines RAF-Sterns an die Hausmauer!) haben damals dazu geführt, dass kleine Fische das geworden sind, was ihnen der Verfolgungsapparat von vornherein unterstellt hatte: Terroristen.

Die Angst vor dem Terrorismus, der sich heute als islamistischer Terrorismus präsentiert, treibt Rechtsstaaten zu Reaktionen, vor denen man Angst haben muss. Es werden Infrastrukturen der Überwachung etabliert. Es wird über Folter diskutiert; in Guantanamo wurde sie praktiziert. In Teilen der Öffentlichkeit gibt es ein lauerndes exzessives Strafbedürfnis. Aufgeklärte Politik muss da widerstehen. Es ist so: Die Sicherheitsapparate eines Polizeistaats dürfen alles, was sie können. Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaats können alles, was sie dürfen; sie können und dürfen ziemlich viel, aber das hat eine Grenze. Diese Grenze zu zeigen, ist die Aufgabe einer klugen Politik der inneren und äußeren Sicherheit, die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Und diese Grenze zu befestigen – das ist Prävention.

Bei der Bekämpfung des RAF-Terrorismus und des islamistischen Terrorismus zeigten sich Schwächen bei dieser Grenzsicherung, es zeigte sich eine Materialermüdung des Rechtsstaats. Otto Schily hätte in seinen Jahren als Bundesinnenminister der rot-grünen Regierung die legislativen und exekutiven Schäden der RAF-Zeit reparieren können; er hat das nicht getan. Er erwirkte stattdessen gegen den islamistischen Terror rigorose Maßnahmen von einem Umfang, die jene, die er einst als RAF-Verteidiger so vehement kritisiert hatte, noch um ein Vielfaches übertrafen.

Beim rechtsextremistischen Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat die Metapher von der Ermüdung der Rechtsstaats eine besondere Bedeutung – die staatlichen Aktivitäten waren viele Jahre lang matt und müde. Mehr noch: Der Staat hat sich schuldig gemacht, zumindest durch lange, brutale Untätigkeit. Der Landesverfassungsschutz Thüringen hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat verdunkelt und verschleiert; er hat die Neonazi-Szene sogar vor Ermittlungen gewarnt. Wenigstens der große Strafprozess vor dem Oberlandesgericht München gegen fünf Mitglieder des NSU war dann ein guter rechtsstaatlicher Kontrast zum Stammheim-Prozess.

Der treffliche Kommentar zu alledem findet sich in der Gedenkrede, die Bundespräsident Walter Scheel 1977 für Hanns Martin Schleyer gehalten hat: „Haben diejenigen, die die Terroristen unterstützen, überhaupt noch nicht begriffen, was eine demokratische Lebensordnung ist, so haben diejenigen, die auf der menschlichen Würde auch des Terroristen bestehen, die Demokratie zu Ende gedacht.“ Dieser Satz gilt auch heute.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 22.05.2025 in der Süddeutschen Zeitung.