Vor achtzig Jahren wurde der Pfarrer von den Nazis umgebracht. Seine Opposition gegen deren Tyrannei gehört zu den guten Mächten der deutschen Geschichte. Und nun versuchen AfD oder Evangelikale, den Hitler-Gegner für sich zu nutzen.

Kolumne von Heribert Prantl

Der Karfreitag ist ein Feiertag, an dem es nichts zu feiern gibt. Es ist ein Tag, an dem Ostern viel weiter weg ist als zwei oder drei Kalendertage. Es ist ein Tag der Trauer über die traurige Realität, über das Ende bisheriger Gewissheiten; es ist ein Tag, an dem Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung ihren Platz haben – Verzweiflung über persönliches Leid, Verzweiflung über den Zustand der Welt. Der Karfreitag ist ein Tag, der das Leid und die Leidenden ehrt und würdigt. Es ist ein grausam ehrlicher Tag, ein Tag ohne Hoffnung auf Halleluja und Auferstehung. Es ist ein Tag, der bitter spüren lässt: Der Tod ist etwas Endgültiges.In den Kirchen verklingt die Orgel, die Bibel wird zugeschlagen, die Lichter gehen aus; es herrscht Stille, Todesstille; den Gläubigen wird abverlangt, dass sie das aushalten. Es ist dies das Gedenken an einen Justizmord, begangen an einem Jesus von Nazareth vor zweitausend Jahren. Die Erzählungen darüber, Evangelien genannt, wurden kurz nach der Katastrophe des Jüdischen Krieges im Jahr 70 geschrieben – der keine Zeitenwende war, sondern ein Zeitenende: Der Tempel war vernichtet, das Land zerstört, ein großer Teil der Bevölkerung von der römischen Besatzungsmacht abgeschlachtet worden. Weil die Römer nicht genug vom Kreuzigen bekommen konnten, war sogar das Holz für die Kreuze knapp geworden. Die Evangelien sind Trauma-Bewältigungsliteratur. Geschildert wird zuerst einmal das Trauma von Golgatha, der Stätte der Kreuzigung: Die Sonne verliert ihren Schein, die Finsternis sackt über alles. Die Zukunft hat keine Zukunft mehr.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Der Karfreitag bringt eine schmerzhafte Erkenntnis: Da ist keine überirdische Allmacht, die von oben eingreift, die das Schlimme und das Schlimmste verhindert – die klassische religiöse Hoffnung wird enttäuscht. Im Karfreitagsevangelium schreit der Jesus am Kreuz, dass Gott ihn verlassen hat: „Eloi, Eloi, lema sabachtani“, übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Dieser Schrei eines Einzelnen ist der Schrei der Vielen. Karfreitag ist also der Tag der Gottabwesenheit und der Gottlosigkeit. An diesem Tag wird der angeblich Allmächtige nicht verteidigt, an diesem Tag ist die Abwesenheit Gottes anwesend. An diesem Tag richtet sich der Blick auf die Gottverlassenheit der Welt; dieser Tag gibt denen recht, die sagen: Da ist kein Gott. Er gibt sogar Gläubigen die Freiheit, ihren verschämten Unglauben herauszulassen aus der Ecke, in der er sonst versteckt kauert. Der Karfreitag ist der Tag, der einen Atheismus der Verzweiflung achtet. Dieser Tag mit seinen Schrecknissen, seinen Ungeheuerlichkeiten und der völligen Abwesenheit Gottes wird bisweilen als eine Art Vorspiel für das österliche Happy End betrachtet; das aber ist eine Herabsetzung und Entwertung des Karfreitags.
In diesen Wochen des Jahres 2025 gedenken wir der Befreiung der Konzentrationslager vor achtzig Jahren. Drei Päpste haben Auschwitz besucht. Der polnische Papst Johannes Paul II. kam im Jahr 1979, der deutsche Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006, der lateinamerikanische Papst Franziskus im Jahr 2016. Franziskus hielt keine Ansprache, feierte keinen Gottesdienst, er schwieg einfach, eine Viertelstunde lang, dann küsste er den eisernen Pfahl eines Galgens. Alle drei Päpste trieb die Frage um: „Warum hast du geschwiegen, Gott?“ Papst Franziskus war vielleicht deswegen so still, weil es eine befriedigende Antwort nicht gibt.

Warum wählen so viele Menschen ihre eigenen Zerstörer?

Der Glaube an Gott verlangt entweder ungeheure Naivität oder ein unglaubliches Ringen. Das Kreuz ist der Identifikationspunkt für Lebens- und Todeserfahrungen, die nicht auflösbar sind. Es ist der Ort für die Warum-Fragen, die unbedingt gestellt werden müssen, auch wenn sie keine letzte Antwort finden. Warum verrät einer seinen besten Freund? Warum wählen so viele Menschen ihre eigenen Zerstörer? Warum habe ich das bloß getan? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Sollte man Fragen, die keine Lösung finden, besser gar nicht stellen? Im Gegenteil! Sie sind lebensnotwendig und darum österlich. Sie sind Leben. Nicht mehr zu fragen ist der Tod.

In einer Barackenwand im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen bei Linz ist der bittere Satz eines damaligen Häftlings eingeritzt: „Wenn es einen Gott gibt, dann soll er mich um Verzeihung bitten!“ Für die vierzigtausend Menschen, die dort überlebt hatten, war das Ostern 1945 in Wahrheit der 5. Mai. An diesem Tag wurde das Lager durch die vorrückenden Truppen der 11. US-Panzerdivision der 3. US-Armee befreit. Das war eine Auferstehung.

Ostern ist ein unfassbares, ein unmögliches Fest

Was und wann ist Ostern für die Mutter, bei der die Polizisten mit der Notfallseelsorgerin an der Tür stehen und sagen: Ihr Sohn ist tot! Wo und wann ist Auferstehung für den Mann, der im kirchlichen Kinderheim sadistische Gewalt erlebt hat und der beim Wort Gott nur noch Ekel empfindet? Was und wenn ist Auferstehung für die Geisel in Gaza und die hungernde Familie dort? Soll und kann man diese Menschen in ihrem Leid wirklich trösten mit dem Satz „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“? Das sind Osterfragen. Sie fordern die „Durchquerung des Unmöglichen“. So hat die französische Philosophin Corine Pelluchon ihren kürzlich erschienenen Essay über die Hoffnung betitelt.

Ostern ist ein unfassbares, ein unmögliches Fest. In den Evangelien steht der hingerichtete und begrabene Jesus nach ein paar Tagen wieder lebendig da, als Sieger über den Tod. Das sei, so sagt es das Christentum, das Urmodell für die Auferstehung auch des normal Sterblichen. Auf den Gemälden der Renaissance ist eine Durchquerung des Unmöglichen so ins Bild gesetzt: Man sieht dort, wie am Jüngsten Tag Skelette aus den Särgen steigen und sich mit Haut und Muskeln bekleiden. Das hatte für mich als Kind eine morbid-gläubige, totenkultische Faszination, aus der später Irritation geworden ist. Auferstehung bedeutet, in den Glauben daran zu springen, dass es sie gibt. Sie ist nicht eine Wiederbelebung des Vergangenen; sie ist das Wunder neuer Hoffnung in den alten hoffnungslosen Situationen. Auferstehung ist, wenn man das Leben wieder spürt.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 16.04.2025 in der Süddeutschen Zeitung.