Der kamerunische König Rudolf Manga Bell wurde 1914 von der deutschen Justiz ermordet. Seine Rehabilitierung ist ein erster Schritt zur Aufarbeitung.
Kolumne von Heribert Prantl
Einst stand in den Kirchen und Klöstern ein „Nickneger“; meine Tante Babett, die jahrelang ans Bett gefesselt und eine fromme Frau war, hatte auch so einen auf ihrem Nachtkästchen stehen. Es handelte sich um eine figürliche Spardose, in die man sein Geld für die Mission werfen konnte. Der schwarze Mann nickte nach dem Münzeinwurf mittels eines simplen Mechanismus dankend mit dem Kopf. Bis vor ein paar Jahrzehnten galten solche Missionsspardosen als Ausdruck christlicher Nächstenliebe, sie waren inspiriert von einer Bitte, mit der die Sternsinger noch heute jedes Jahr an Dreikönig von Haus zu Haus ziehen: „Wir bitten für das ferne Land, für Menschen fremd und unbekannt“. Heute sind die Nickfiguren, weil sie unter Rassismusverdacht stehen, in die Museen für Volkskunde und Mission verbannt.
Sie erinnern an eine Zeit, in der sich ein Tante-Emma-Laden noch stolz „Kolonialwarenhandlung“ nannte und Deutschland von einem „Platz an der Sonne“ träumte. Die deutsche Kolonialgeschichte blieb kurz, sie endete mit dem Ersten Weltkrieg. Zwischen 1884 und 1918 war Deutschland die drittgrößte europäische Kolonialmacht in Afrika. Es herrschte mit der Nilpferdpeitsche über Deutsch-Ostafrika (heute Burundi, Ruanda und Tansania), über Deutsch-Südwest (heute Namibia) sowie über Gebiete in den heutigen Staaten Togo, Ghana und Kamerun. Auch im chinesischen Tsingtau hatte sich das Kaiserreich festgesetzt; der dort gepachtete Landstrich wurde bisweilen als Deutsch-China bezeichnet. Geblieben davon ist dort erstens die wilhelminische Architektur, zweitens das Bier, nämlich eine der größten Brauereien der Welt, und drittens eine Fachwerksiedlung in Worms, „Kiautschau“ genannt, weil ein Dutzend Wormser Matrosenartilleristen in der chinesischen Kiautschou-Bucht stationiert gewesen waren. In der kollektiven deutschen Erinnerung haben die Taten und die Untaten der Kolonialherrschaft kaum Spuren hinterlassen; sie wurden vom Holocaust überlagert.
Wenn der Bauernknecht Gottfried am Sonntagmittag im Wirtshaus meines Heimatorts das Lied von der Matrosenwacht anstimmte („Zu Kiautschau um Mitternacht“) – ich rede von den Sechzigerjahren –, wusste kein Mensch, wovon der wilde alte Mann da besoffen sang. Er sang von Deutsch-China und von Deutsch-Südwestafrika; und er brabbelte von „de Necha“, denen man nicht trauen dürfe. Es war schon die Zeit, in der Martin Luther King in den USA mit gewaltigen Demonstrationen für die Aufhebung der Rassentrennung warb, den Friedensnobelpreis erhielt und 1968 von einem Attentäter erschossen wurde. Der Rassismus, den Martin Luther King anprangerte – er war, so glaubte es das deutsche Fernsehpublikum damals, kein deutsches Thema.
Einer, der zum rassistischen Größenwahn und deutschen Unrecht nicht genickt hatte, war Rudolf Manga Bell. Er hatte selbstbewusst und mit erhobenem Kopf Recht verlangt für sein Volk. Zur Strafe wurde er aufgehängt. Das war im August 1914. Der Mann war König des Volkes der Duala in Kamerun. Er hatte es, nach seinem Studium in Deutschland, gewagt, sich im Vertrauen auf die deutsche Rechtskultur an den Reichstag und die Justiz zu wenden. Er hatte nicht genickt zu den Betrügereien und Widerwärtigkeiten der Kolonialverwaltung; ihm wurde deswegen das Genick gebrochen.
Kritik am Kolonialismus wurde im Kaiserreich hart bestraft
Die Deutschen hatten vertragswidrig den Handel in Kamerun an sich gerissen, unerhörte Steuern verlangt und die Menschen zur Sklavenarbeit gezwungen. Es sollte ein gigantischer Hafen errichtet und die störende Bevölkerung in malariaveresuchte Sumpfgebiete umgesiedelt werden. Manga Bell, mit deutscher Sprache, Kultur und Recht vertraut, weigerte sich, den Umsiedlungsplänen zu folgen, er schaltete die deutsche Öffentlichkeit ein. Das werteten die Kolonialbehörden als Provokation und Hochverrat, setzten die Enteignung mit militärischen Mitteln durch – und, just zu Beginn des Ersten Weltkriegs, Todesurteile gegen Manga Bell und seinen Mitstreiter. Die beiden Widerständler wurden sofort nach dem Urteil am 8. August 1914 hingerichtet. Sie gehören zu den ersten schwarzen Menschenrechtsaktivisten. Das Verbrechen war deswegen ein besonderes Verbrechen, weil die deutsche Justiz, die Kolonialjustiz, es begangen hat – es war ein rassistischer Justizmord.
Das ist schon lange her, so lange, dass es vergessen wurde und vergessen blieb, bis der Berliner Journalist Christian Bommarius dieses Schicksal im Jahr 2015 in einem Buch dem Vergessen entriss. Das Buch heißt: „Der gute Deutsche“. Es ist ein Buch mit Wirkungsgeschichte: Soeben ist nämlich die Rehabilitierung dieses Rudolf Manga Bell erklärt worden – 110 Jahre nach dem Justizmord. Das Auswärtige Amt hat im Namen der Bundesrepublik offiziell publiziert, dass das Urteil Unrecht war und die Ermordeten unschuldig waren. Es ist dies die erste Rehabilitierung von Opfern der deutschen Kolonialjustiz.
Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, hatte sich schon vor einiger Zeit bei einer Gedenkrede in Kamerun von den Nachfahren Manga Bells verneigt. Zu diesen Nachfahren gehört der pensionierte bayerische Lehrer Jean Pierre Felix-Éyoum. Unter anderem seinem Engagement ist es zu verdanken, dass an Orten, an denen der Ermordete einst zur Schule gegangen war, nämlich in Ulm und Aalen, ein Manga-Bell-Platz eingeweiht wurde. In Berlin wurde im Dezember 2022 der Nachtigal-Platz im afrikanischen Viertel umbenannt – in „Manga-Bell-Platz“. Das ist mehr als ein Zeichen: Gustav Nachtigal war der Reichskommissar des Kaiserreichs, der einst die Kolonien in Westafrika gegründet hat.
Mit der Rehabilitierung des ehemaligen Aalener Schülers Rudolf Manga Bell wird zugleich einem der lautersten und mutigsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte, Christian Friedrich Daniel Schubart, ein würdiges Denkmal gesetzt. Schubart hatte seine Jugendjahre in Aalen verbracht und wurde ohne Urteil wegen seiner antikolonialistischen Fürstenkritik zehn Jahre auf dem Hohenasperg eingekerkert: Er hatte den Verkauf von württembergischen Landeskindern für Englands Kolonialkriege angeprangert.
Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte kommt voran. Sie verdient Beachtung; und ihre Opfer verdienen Achtung.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 08.08.2024 in der Süddeutchen Zeitung.