Frank-Walter Steinmeier geißelte in Solingen noch vor einem Jahr die Asyldebatte der 90er. Jetzt spricht er vom Nichtüberfordern. Er sollte lieber zu Empathie aufrufen.

Kolumne von Heribert Prantl

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist ein Chamäleon. Das gehört eigentlich nicht zur Beschreibung seines Amtes. Aber er kann das gut: Er passt sich der politischen Umgebung, er passt sich der politischen Grundstimmung an. Wenn diese Stimmung sich ändert, ändert sich die Einfärbung seiner Reden. Am Thema Migration lässt sich das gut beobachten. Am 1. September, kurz bevor in Thüringen und Sachsen die Wahllokale schlossen und dort die politische Landschaft umgepflügt wurde, hat er in Solingen eine Rede gehalten, in der er die Begrenzung des Zugangs von Migranten nach Deutschland zur „Priorität in den nächsten Jahren“ erklärte. Dafür müssten wir „jede Anstrengung unternehmen“, um die alten und die neu zu schaffenden Zugangsregeln umzusetzen.

Wirklich jede? Gehört dazu die Entrechtlichung des Umgangs mit Flüchtlingen? Soll den Migranten das Recht, Rechte zu haben, entzogen werden? Gehört dazu dann die Beseitigung auch noch der Reste des Asylgrundrechts, die die Grundgesetzänderung von 1993 übrig gelassen hat? So fordert es die CSU. Soll Deutschland sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen, wie das in den jüngsten Asylbeschlüssen der Ampelregierung klandestin schon angelegt ist? Oder soll man diese Konvention, 73 Jahre nach ihrer Verkündung, gleich ganz und gar kündigen – als knalliges Signal für die Begrenzung des Zugangs? Soll Deutschland, wenn es um Flüchtlinge geht, sich ungarisieren? Ist das die „Zeitenwende in der Migrationspolitik“, die in der CDU gefordert wird? Wenn all das, was derzeit zur „Begrenzung des Zugangs“ plakatiert wird, Gesetz und Praxis würde – dann liefe das darauf hinaus, den Artikel 1 des Grundgesetzes unter Vorbehalt zu stellen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht da.

Steinmeier hat diesen obersten Rechtssatz oft verteidigt. Aber die Diffusität seiner Forderung, zur Begrenzung des Zugangs künftig „jede Anstrengung“ zu unternehmen, klingt ganz und gar nicht nach Verteidigung. Sie klingt so, dass sich selbst die AfD darauf berufen kann. Damit setzt sich Steinmeier in Widerspruch zu sich selbst. Er hat vor einiger Zeit bei anderer Gelegenheit, aber am gleichen Ort, in Solingen also, die Politik noch gemahnt, die Sprache und die Worte zu wägen, die sie benutzt: „Wenn Politiker glauben, verbal um den rechten Rand buhlen zu müssen – dann befeuern sie damit die Gewalt.“ Das war vor einem guten Jahr. Jetzt redet er selbst so, dass es sich wie eine solche Buhlerei anhört: Steinmeier hat die Flüchtlingszahlen als solche zum Sicherheitsproblem erklärt. Er übersieht damit, dass nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern auch das Gros der Flüchtlinge Sicherheit und Schutz sucht – und dass radikalisierte Islamisten eine Bedrohung für beide sind.

In der ersten Rede beschrieb Steinmeier, wie die Asyldebatte den Boden für den Anschlag von Solingen 1993 bereitet hat

Steinmeier hat in Solingen zwei Reden zur Migration gehalten: die eine im Mai 2023, die andere im September 2024. Die Reden passen nicht zusammen; sie widersprechen sich. In der ersten Rede beschrieb und geißelte er, wie der Ungeist der Asyldebatten der späten Achtziger und frühen Neunzigerjahre den Boden für Anschläge bereitet hat – wie den Anschlag von Solingen 1993. In der zweiten, soeben gehaltenen Rede propagiert er nun neue Flüchtlingsdebatten, um dann mit neu formulierten Flüchtlingsabweisungs-Gesetzen die Flüchtlingszahlen zu reduzieren – weil man die Gesellschaft „nicht überfordern“ dürfe. Die erste Rede war, zum dreißigsten Jahrestag, den Opfern des Brandschlags vom 29. Mai 1993 gewidmet; dabei hatten Neonazis das Wohnhaus der türkischen Familie Genç angezündet und fünf Frauen und Mädchen ermordet. Die zweite Rede war dem Gedenken an die drei Opfer gewidmet, die ein islamistischer Attentäter am 23. August 2024 mit einem Messer erstochen hat. Was will Steinmeier? Will er die Stabilisierung des Rechts oder die Reduzierung des Rechts? Ist das abhängig von der Stimmung, die gerade herrscht, und von der Gruppe, aus der die Täter kommen? „Seien wir stark und besinnen wir uns auf das, was uns ausmacht“, hat Steinmeier zuletzt gesagt. Es ist aber keine Stärke, Forderungen von rechts außen zu stärken. Es ist keine Stärke, den politischen Gestaltungswillen durch politische Kapitulation zu ersetzen. Es ist keine Stärke, rechtsfreie Räume zu schaffen. Und es keine Stärke, dort Schutz suchende Menschen einzusperren.

Die heutigen völkerrechtlichen Flüchtlingsschutz-Regeln, wie sie in der Genfer Flüchtlingskonvention formuliert sind, waren ein spätes internationales Schuldbekenntnis für die Flüchtlingskonferenz von Évian. Dort verhandelten 1938 mehr als 30 Staaten darüber, wie den in Nazi-Deutschland verfolgten Juden geholfen werden könnte. Die Konferenz scheiterte grandios. Man darf nun keine falschen Vergleiche ziehen. Die Lage der Flüchtlinge von heute ist eine ganz andere als die der Juden in Nazi-Deutschland. Aber um die Menschen hinter den Zahlen geht es auch heute; doch die Einzelschicksale interessieren die Politik kaum – den Bundespräsidenten offenbar auch nicht; die Flüchtlinge gelten als Teil einer bedrohlichen Masse. Von „Menschenfleisch“ hat der frühere italienische Innenminister Salvini gesprochen. Unmenschlichkeit beginnt mit solcher Sprache. Sie darf nicht abfärben, auch nicht dann, wenn es gilt, der AfD das Wasser abzugraben.

Die Bürokratie bei der Entscheidung über den Flüchtlingsstatus ist inakzeptabel

Das geschieht auf andere Weise. Das geschieht mit einem berechtigten Stolz auf den Schutz, den man gewährt. Das geschieht mit einem Lob für die vielen Gutwilligen, die dabei helfen. Das geschieht damit, dem geltenden Recht die elenden Bürokratismen auszutreiben: Es ist inakzeptabel, wenn von der Anhörung eines Flüchtlings beim zuständigen Bundesamt bis zu dessen Entscheidung ein Jahr vergeht. Es ist inakzeptabel, wenn dann ein Gerichtsverfahren noch länger dauert. Das alles sollte künftig im Regelfall innerhalb von neun Monaten abgewickelt werden – oder es muss eine befristete Aufenthalts- und Beschäftigungserlaubnis erteilt werden. Das gelingt angesichts der Berge von anhängigen Verfahren nur dann, wenn eine Stichtagsregelung für Entlastung sorgt: Alle Asylantragsteller sollen aus dem Asylverfahren herausgenommen werden, die nach pflichtgemäßem Ermessen ohnehin bleiben dürfen und kein Sicherheitsrisiko darstellen. Und denjenigen, die ihren Asylantrag zurücknehmen, sollte eine befristete Arbeitserlaubnis erteilt und dann geschaut werden, ob die sich in der Arbeit bewähren. Um die Asylprobleme anzupacken, braucht es zupackende Empathie. Da sollte der Bundespräsident nachhelfen.