Die AfD rüttelt an den Fundamenten der Demokratie. Jetzt ist der Moment, in dem Frank-Walter Steinmeier eine große Ansprache gegen Hass und Hetze halten muss – auch wenn es ein Eingriff in den Wahlkampf ist.

Kolumne von Heribert Prantl

„Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht. Auf einmal kann sie weg sein.“ Christian Wulff, Bundespräsident a.D., hat diesen warnenden Satz vor einem Jahr gesagt – bei einer der vielen Demonstrationen, auf denen damals Hunderttausende gegen die sogenannten Remigrationspläne von Rechtsextremisten protestierten. Die Extremisten hatten bei einer Konferenz in Potsdam geplant, dass missliebige Menschen mit migrantischen Wurzeln aus dem Land getrieben werden sollen. Er hätte sich allerdings, so meinte Wulff damals, „das Aufstehen gegen den Rechtsextremismus schon früher gewünscht“. Da hatte er recht. Aber noch viel mehr wünscht man sich ein solches Aufstehen heute; man wünscht sich, 37 Tage vor der Bundestagswahl, den großen Aufstand gegen den völkischen Nationalismus.

Warum? Die AfD, die vor einem Jahr noch so tat, als habe sie mit den Vertreibungsplänen nichts zu tun, hat soeben die rabiate Ausschaffung und Abschiebung von Menschen, die ihr nicht passen, mit Jubel und aggressivem Selbstbewusstsein als „Remigration“ in ihr Programm aufgenommen. Die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel schwelgte auf dem Parteitag in Riesa in staatsstreicherischen Tiraden. Vom Niederreißen und vom Kaputtreißen war die Rede; das war nicht einfach nur Wahlkampf; das war die Ankündigung von Verfassungsbruch. Das war ein Generalangriff auf die zentralen Werte des Grundgesetzes. Phlegmatismus in einer so bedrohlichen Situation ist eine demokratische Todsünde – erst recht seit den Wahlerfolgen der AfD.

Völkische Entrechtungs- und Vertreibungsszenarien haben Konjunktur

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in vielen Reden von den Bürgerinnen und Bürgern Zivilcourage und aufrechten Gang verlangt. Er hat sich widerstandskräftige Bürger gewünscht. Nun ist er als oberster Bürger gefordert. Er muss ein Whistleblower der Demokratie sein. Steinmeier hat am 9. November 2018, bei einer Gedenkstunde zum hundertsten Jahrestag der Ausrufung der Republik in Deutschland, den denkwürdigen Satz gesagt: „So wenig der Demokratie am 9. November 1918 ihr Scheitern vorherbestimmt war, so wenig ist ihr einhundert Jahre später ihr Gelingen garantiert.“ Diese richtige Feststellung ruft jetzt nach einer, nach seiner großen Rede. Es braucht das aufrüttelnde Wort gegen den Rechtsextremismus. Er selbst hat sich dazu verpflichtet, in seiner Antrittsrede vor der Bundesversammlung, gleich nach seiner Wahl im Jahr 2017: „Wenn das Fundament anderswo wackelt, dann müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen.“ Das Fundament wackelt jetzt nicht nur „anderswo“, es wackelt in Deutschland.

Völkische Entrechtungs- und Vertreibungsszenarien haben Konjunktur. Dazu tragen Politikerinnen und Politiker der demokratischen Parteien bei, weil sie sich als infizierte Scharfmacher inszenieren und der AfD nachlaufen. CDU-Kanzlerkandidat Merz wirbt für eine Zweiteilung der deutschen Staatsbürgerschaft: Die eine soll stabil sein, die andere wackelig. Die CSU zeigt auf einem Wahlplakat, das für die „konsequente Abschiebung abgelehnter Flüchtlinge“ wirbt, ein großes Flugzeug, gerade so, als handele es sich um eine Illustration zu rechtsextremen Remigrationsplänen. Zu konstatieren ist eine fortschreitende, eine AfD-getriebene Enthemmung der politischen Botschaften. Der SPD-Kanzler Scholz hat schon 2023 in einem Spiegel-Interview für die Abschiebung von Flüchtlingen „im großen Stil“ und für eine „gewisse Härte“ gegen diejenigen geworben, „die kein Recht haben zu bleiben“. Es zählt nicht mehr der Einzelfall, es zählt der Rabiatismus. Der beginnt bei den Flüchtlingen und endet bei ihnen nicht. Menschenwürde ist aber, wie der Bonner Verfassungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz schön formuliert hat, „nicht das Recht der Stärkeren, sondern das Recht der Schwächeren“. Gärditz hat daher intensiv für ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD geworben: Darauf zu verzichten, könne bedeuten, Menschen, die als Feindbild markiert wurden, im Stich zu lassen.

Ja, eine Rede wäre ein Eingriff in den Wahlkampf – aber einer aus brennender Sorge

Kurz vor der Bundestagswahl ist das Land bedroht von rassistischer Unverfrorenheit, von gemeiner Rede, von Verachtung für die Werte der Verfassung, von der rabiaten Missachtung des Respekts und der Achtung, die jedem Menschen zustehen. Es wäre deshalb gut gewesen, wenn die zuständigen Verfassungsorgane (Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung) das Bundesverfassungsgericht angerufen hätte, um ein Parteiverbot gegen die AfD zu prüfen. Jetzt ist der Bundespräsident aufgerufen. Steinmeier hat kluge, geschichtsmächtige Reden gehalten zum Wesen und Werden der Demokratie, zur gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848, zu Glanz und Elend der Weimarer Republik sowie zur Entstehung des Grundgesetzes. Nun muss er zur gefährdeten Zukunft dieser Demokratie sprechen. Er soll, das ist seine Aufgabe und seine Pflicht, klar und klug reagieren, „wenn es im Raum des Politischen Abirrungen und Fehlentwicklungen gibt“. So wünscht es sich nicht nur das „Handbuch des Staatsrechts“; das sind die Anforderungen, die Steinmeier bei seinem Amtsantritt selbst an sich gestellt hat.

Am kommenden Montag ist der 83. Jahrestag der Wannsee-Konferenz. Am 20. Januar 1942 hatten die Nationalsozialisten in einer Villa am Wannsee beschlossen, den Holocaust an den Juden im Detail staatlich zu organisieren und tödlich zu perfektionieren. An diesem Gedenktag könnte, sollte, müsste der Bundespräsident seine große Rede halten gegen den völkischen Nationalismus, gegen die Verfolgung von Minderheiten, gegen Rassismus, gegen Rechts- und Verfassungsbruch, gegen Hass und Hetze. Von rechts außen und rechts draußen würde das als Eingriff in den Wahlkampf gewertet und gegeißelt werden. Ja, das wäre ein Eingriff in den Wahlkampf – aber einer aus brennender Sorge um das demokratische Gemeinwesen. Und es wäre gut, wenn die früheren Bundespräsidenten sich hinter einer solchen Botschaft versammeln: Horst Köhler, er war Staatsoberhaupt von 2004 bis 2010; Christian Wulff, er war es von 2010 bis 2012; und Joachim Gauck, er war es von 2012 bis 2017. Das würde zeigen, dass es nicht um Parteipolitik geht, sondern um die Verteidigung von Rechtsstaat, Demokratie und der Werte, die zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes so gepriesen worden sind. Bundespräsidenten wirken durch ihre Reden. Selten in der Geschichte der Bundesrepublik war diese Wirkung so nötig wie heute.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 16.01.2025 in der Süddeutchen Zeitung.