In der Präambel der deutschen Verfassung steht ein Friedensgebot. Führt das neue Auf- und Wettrüsten zum Gegenteil?
Das Wort Vademecum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Geh mit mir“. Es ist dies nicht nur der Name eines Mundwasserkonzentrats. Vademecum ist auch die schöne Beschreibung für einen handlichen Ratgeber. Der wichtigste Ratgeber in der Bundesrepublik Deutschland heißt Grundgesetz. Soeben, am Verfassungstag, ist dieses Grundgesetz als unentbehrlicher Ratgeber gepriesen, es ist seine Bedeutung für alle politischen Grundentscheidungen gewürdigt worden. Aber: Das stimmt nicht. In der Praxis wird die Essenz des Grundgesetzes genutzt wie ein Mundwasser: Man gibt ein paar Spitzer davon in ein Glas Wasser, gurgelt, spült damit und spuckt das Ganze dann wieder aus. Die wichtigsten politischen Entscheidungen der Gegenwart werden abseits des Grundgesetzes getroffen.
Davon, dass die Bundeswehr zur stärksten Armee Europas werden soll, wie es Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner Regierungserklärung verkündet hat, steht nichts im Grundgesetz. Es steht darin auch kein Wort von der Militarisierung des Staatshaushalts, wie sie Außenminister Johann Wadephul soeben angekündigt hat. Es sollen künftig, weil sich das der amerikanische Präsident Trump so wünscht, fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben werden. Das sind 215 Milliarden Euro jährlich, also fast die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts. Das ist entweder ein rein verbaler Maximalismus, also Maulheldentum – oder aber sehr verantwortungslos, weil damit dann der soziale und der innere Frieden auf der Strecke bleiben. Das Grundgesetz will keinen Staat, in dem das Militär im Zentrum der Politik steht. Davon, dass die Regierungspolitik einen Blankoscheck für die Rüstungsindustrie ausstellen darf, steht auch nichts im Grundgesetz. Im Gegenteil: Das Grundgesetz will die Produktion von Kriegswaffen eindämmen. Es ist nach seinem Wortlaut und seinem Geist ein Manifest des Friedens.
In seiner Präambel steht ein Friedensgebot. Es verpflichtet das deutsche Volk dazu, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Dienen schier grenzenlose Rüstungsausgaben dem Frieden der Welt? Das ist auch in Putin-Zeiten nur schwer zu begründen. Das widerspricht allem, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten. Und das widerstreitet allem, was Papst Leo XIV. seit seinem Amtsantritt in seinen Reden feststellt: Es kann keinen Frieden geben ohne echte Abrüstung; der Anspruch eines jeden Volkes, für seine eigene Verteidigung zu sorgen, darf nicht zu einem allgemeinen Wettrüsten führen. Gewiss: Nothilfe gegen einen Aggressor gehört zur aktiven Friedenspolitik, das ist im Völkerrecht unumstritten. Aber wo endet die gute Nothilfe? Wo beginnt friedensfeindliche Aufrüstung?
Die Welt hat sich geändert seit den ersten Anfängen des Grundgesetzes. Damals, gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hatte Carlo Schmid, der dann bei Grundgesetzesberatungen eine wichtige Rolle spielte, einen bewussten Verzicht Deutschlands auf eine Politik der militärischen Stärke gefordert, um so ein „neues gesundes Vorbild“ auch für andere Staaten zu sein. Das geschlagene Deutschland habe nun die „unschätzbare Gelegenheit“, aus der Not, „in die man uns gestürzt hat“, eine Tugend zu machen. Das werde einen „moralischen Sog auf die übrige Welt ausüben; früher oder später könne sich keine Nation entziehen“. Eine friedfertige Welt werde am Ende dieser Entwicklung stehen. Das war sein Traum, das war blauäugig. Die Berlin-Blockade durch die Sowjetunion begleitete und verängstigte die Arbeiten am Grundgesetz. Und der Vorschlag, einen Artikel zur Ächtung jedwedes Kriegs, auch des Verteidigungskriegs, ins Grundgesetz aufzunehmen, fand keine Mehrheit. Eine sehr friedliebende Verfassung ist das Grundgesetz trotzdem geworden.
Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts wurde die Wehrverfassung ins Grundgesetz geschrieben und darin die Aufstellung von „Streitkräften zur Verteidigung“ beschlossen. Rüstungspolitik und militärische Sicherheitspolitik sind seitdem ausdrücklich zugelassen. Das Wort „Verteidigung“ bekam Flügel und erlaubte, genehmigt vom Bundesverfassungsgericht, auch den Einsatz „out of area“, also außerhalb des Nato-Gebietes. Wer heute dem Kanzler und seinem Außenminister zuhört, der hat den Eindruck, das Wort Verteidigung kenne gar keine Schranken und gar keine Grenzen mehr: Man muss nur „Putin“ sagen, dann ist alles erlaubt. Aber so ist es nicht.
Das Grundgesetz will keinen Staat, in dem das Militär im Zentrum der Politik steht
Es steht immer noch der eigentlich mahnende und warnende Satz im Grundgesetz: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ Dieser Satz sollte verhindern, dass die Rüstungsindustrie zur Boombranche wird. Nun ist es aber so, dass die Bundesregierung diese Entwicklung selbst vorantreibt – zu Zwecken der Abschreckung. Das lag außerhalb des verfassungsorientierten Vorstellungsvermögens. Die Aufhebung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben führt zum rasenden Wachstum der Rüstungsindustrie. Das Friedensgebot sollte eigentlich ein Prinzip sein, das dies verhindert. Aber das Gebot ist still und stumm, seit Jahrzehnten. Es spielt keine Rolle in der Politik, es spielt keine Rolle in der öffentlichen Diskussion über Aufrüstung und Abschreckung. Wird aus dem grundgesetzlichen Friedensgebot der irrsinnigen Rüstungsausgaben wegen de facto ein Friedensverbot? Ein willkommener Zustand des andauernden, abschreckenden Unfriedens?
Zu konstatieren ist ein großes verfassungsrechtliches Defizit: Es ist versäumt worden, das Friedensgebot zu substanziieren, zu konkretisieren, zu profilieren und fortzuentwickeln – so wie das mit dem Rechtsstaatsgebot und dem Sozialstaatsgebot geschehen ist. Das Friedensgebot ist eine leere Formel geblieben. Es ziert die Verfassung, wird aber behandelt wie eine Verzierung. Die öffentliche Diskussion über den Krieg in der Ukraine ist daher eine haltlose Diskussion. Die entscheidende Frage ist: Wann wird aus der willkommenen Abschreckung des Feindes eine gefährliche Abnutzung des Friedens?
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 29.05.2025 in der Süddeutschen Zeitung.