Er war Industriekapitän und Politiker. Er war politischer Visionär. Er war Patriot. Er war Staatsmann, Industrieller und Philosoph. Er war Wortführer einer zerrissenen Epoche. Er war ein erfolgreicher Schriftsteller, Salonlöwe und Sozialreformer. Er war ein Verfechter der Gemeinwirtschaft und ein Gegner des Erbrechts. Er wollte mittels Erbschaftssteuern die Gesellschaft grundlegend reformieren und das Proletariat verbürgerlichen. Sein Vater, der AEG-Gründer Emil Rathenau, soll über seinen Sohn gesagt haben, er sei „ein Baum, der mehr Blüten als Früchte trage“. Den einen Kritikern galt Walther Rathenau als „Jesus im Frack“, den anderen als „Aufsichtsrathenau“. Er war ein brillanter Kopf, faszinierend und zugleich schwer zu begreifen, wie seine Biographen meinen. Er war ein jüdischer Deutscher, hin- und hergerissen zwischen Identitäten – so die israelische Historikerin Shulamit Volkov in ihrer Charakterstudie über „Ein jüdisches Leben in Deutschland“.

1914 war Rathenau Kriegskritiker, dann aber organisierte er für das Kriegsministerium die Kriegswirtschaft. 1919 war er einer der Gründer der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und arbeitete für die Verständigung mit Frankreich und Großbritannien. Walther Rathenau dachte deutsch und er träumte europäisch. Er war einer der großen Charismatiker des 20. Jahrhunderts. Im Februar 1922 wurde er Reichsaußenminister, um Deutschland auf der internationalen Bühne eloquent zu vertreten. Die Angriffe der Rechtsradikalen gegen ihn wurden immer massiver, immer lauter, unglaublich unverfroren und gemein. Rathenau war die große Hassfigur der Deutschnationalen und der Antisemiten.

Vor hundert Jahren, am 24. Juni 1922, wurde Walther Rathenau auf dem Weg ins Außenministerium von Mitgliedern der rechtsradikalen „Organisation Consul“ ermordet. Mein Kollege Ronen Steinke hat ihm in der SZ vom Wochenende ein Denkmal gesetzt und über braune Kontinuitäten nachgedacht, die sich über ein langes Jahrhundert hinziehen: 1922 der Mord an Außenninister Walther Rathenau, 2019 der Mord am Regierungspräsidenten Walther Lübcke. Steinke schreibt aber auch darüber, wie hier historische Parallelen an ihre Grenzen stoßen. Ein großes, sehr lesenswertes Stück: „Das gespenstische Echo der Geschichte“.

Der Kopf des Komplotts

Walther Rathenau ist ein Lebensthema des Historikers Martin Sabrow, Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Schon seine Doktorarbeit hat er einst über den „Rathenaumord“ geschrieben; sie erschien später gekürzt unter dem Titel „Die verdrängte Verschwörung“ als Taschenbuch. Sabrows Kernthese, die er in seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit klug untermauert hat, lautet so: Die Ermordung Walther Rathenaus war Teil eines gegenrevolutionären Komplotts zum Sturz der Weimarer Republik. Zum hundertsten Jahrestag der Ermordung Rathenaus hat Sabrow seine Forschungen neu herausgegeben und der Neuausgabe ein spannendes Nachwort hinzugegeben: Es handelt von dem Freikorpsführer und Rechtsputschisten Hermann Ehrhardt, dessen „Organisation Consul“ als rechtsradikale Mordzentrale gilt – und der sich noch 1963 im Interview mit einer Illustrierten über seine einstigen Organisation-Consul-Männer und ihre Terroraktionen wohlwollendst äußerte: Sie hätten die Beseitigung der Vaterlandslosen und der Verräter „für ihre vaterländische Pflicht“ gehalten und dazu keiner Mörderzentrale und keiner Befehle“ bedurft: „Vielleicht traf es dabei auch mal einen Unrechten, zum Sieben war keine Zeit, und es lag auch diesen Freikorpsmännern nicht“. Sabrow legt dar, wie Ehrhardt sich als Chef der Mordorganisation Consul sich die Entscheidung über die Verübung politischer Gewalttaten immer selbst vorbehehalten hatte. Über Ehrhardt liegt, so schreibt Sabrow, „bis heute keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie vor“. Sabrows Darlegungen über den „Kopf des Komplotts“ sind der lucide Einstieg in eine solche Biographie.

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution. Das Buch ist 2022 im Wallstein-Verlag erschienen. Es hat 334 Seiten und kostet 30 Euro.

 

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