Einwanderungspolitik in Zeiten des radikalen Populismus: Nicht einmal ein Topflappen zum Anfassen der heißen Eisen fällt der Regierung ein. Dabei gäbe es eine Lösung.
Kolumne von Heribert Prantl
Am indisch-pakistanischen Grenzübergang Wagah-Attari, er ist benannt nach den nächsten Dörfern der beiden Länder, kann man an jedem Abend ein erstaunliches Spektakel betrachten: eine Grenzschließung, die von den beiden Atommächten martialisch folkloristisch vor Tausenden feiernden Zuschauern und staunenden Touristen zelebriert wird. Der Grenzübergang ist ausgebaut wie ein Stadion, es gibt Tribünen auf den beiden Seiten der Grenzlinie, Metalltore stehen in der Mitte. Musik wummert und dröhnt aus den Lautsprechern; auf indischer Seite ist es patriotischer Pop, auf pakistanischer Seite sind es religiöse Lieder. Wenn die Einpeitscher auf beiden Seiten die Stimmung an- und aufgeheizt haben, marschieren, angefeuert vom jeweiligen Publikum, indische und pakistanische Soldaten in Paradeuniform und mit Stechschritt parallel zur Grenzlinie. Auf dem Kopf tragen sie einen Schmuck, der an Pfauenfedern erinnert. Trompetensignale ertönen, Parolen werden über die Grenze gerufen, die Fahnen eingeholt – und dann werden die Tore zugeknallt. Am nächsten Morgen um acht Uhr öffnet der Grenzübergang dann wieder.
Das liest sich wie ein Geheimtipp aus einem Reiseführer für Indien-Besucher, ist es aber nicht. Von dieser Szene schreibt Steffen Mau in seinem Buch „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“. Es ist nicht das Unglaublichste, was man darin liest, aber es ist das Erheiterndste. Der Soziologieprofessor, Mitglied im Sachverständigenrat für Migration und Integration, hat sein luzides Buch schon vor drei Jahren veröffentlicht. Es ist gegenwärtig, in der Zeit des Radikalpopulismus, das Buch der Stunde. Die von Mau geschilderte Attraktion wird seit 1959 jeden Abend aufgeführt. Was das mit der deutschen und der europäischen Politik zu tun hat? Hierzulande wird seit Jahrzehnten, nicht mit pfauenähnlichem Schmuck, aber mit pfauenähnlichem Schaugebaren, das Spektakel über Grenzen für unerwünschte Migration inszeniert. Früher waren dabei CSU und CDU tonangebend. Heute kommen die Einpeitscher von der AfD und bringen das Publikum in Stimmung, während die Ampel- und die Unionsparteien paradieren und Grenzschließung inszenieren.
Migration lässt sich aber nicht absperren, auch nicht dadurch, dass vermeintliche Pull-Faktoren beseitigt werden. Pull-Faktoren sind nach einer Theorie aus den Sechzigerjahren die sogenannten Migrationsanreize, also alles, was Flüchtlinge angeblich anzieht, zum Beispiel rechtsstaatliche Verfahren, menschenwürdige Unterbringung, Sozialleistungen und offene Grenzen. In der Migrationsforschung gilt diese Theorie längst als überholt. Frank Kalter, Co-Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, hält sie für eine „sehr vage Idee, mehr nicht“.
Die sogenannten Pull-Faktoren
Trotzdem werden aufgrund dieser vagen Idee weiterhin Rhetorik und Ressentiment produziert und vor allem konkrete Politik gemacht. Die sogenannten Pull-Faktoren sollen, wo es eben geht, abgeschafft werden, den Menschen soll das Leben im Aufnahmeland möglichst schwer gemacht werden, selbst dann, wenn diese vergrämenden Maßnahmen höhere Kosten und mehr Bürokratie verursachen. Dazu gehören die Bezahlkarte, Unterbringung in Massenunterkünften ohne Privatsphäre, Minimierung von Rechtsmitteln und von Integrationshilfen. Außerdem erfindet man eigene Push-Faktoren, um die Migranten wegzudrücken: Mauern, Zäune, Pushbacks.
Zum Erfindungsreichtum moderner Grenzregime gehört neuerdings die Idee, afrikanische Staaten zu Offshore-Asylparks zu erklären. Die Staaten, die sich darauf einlassen, um so zu Geld oder Visumfreiheit für ihre Bürger zu kommen, müssen ihre Länder zu erweiterten Grenzen der Festung Europa machen. Worum es geht bei dem Deal? Erstens darum, die europäischen Normen zu schleifen, indem man ihre Einhaltung auf einen anderen Kontinent verlegt. Und zweitens darum, Handlungswillen auf der politischen Bühne aufzuführen. All das nützt aber nichts, und das wissen auch fast alle, die das Spiel spielen. Die Menschen werden dennoch kommen und die Zahl derer, die nach Ruanda ausgeflogen werden können, wird lächerlich gering sein.
Die Einwanderungszahlen in Deutschland sind derzeit besonders hoch wegen der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine; fast 1, 2 Millionen, viele von ihnen Frauen mit Kindern, die wiederum die politisch schon strangulierten Betreuungssysteme belasten; die Ukrainer aber befinden sich außerhalb des Asylsystems und spielen in der alarmistischen Diskussion keine Rolle. Gegen sie Stimmung zu machen traut sich zum Glück niemand. Das scheint sich mit dem jüngsten Vorstoß der CSU aber gerade ungut zu ändern.
Einwanderer kann man nicht als fertige Fachkräfte von ausländischen Bäumen pflücken
Migration kann nicht aufgehalten, sie muss gestaltet werden. Es gibt diese Versuche, sie kommen aber viel zu spät, viel zu schüchtern und zu zaghaft. Die Wirtschaftsweisen fordern 1,5 Millionen Einwanderer im Jahr; die kann man aber nicht als fertige Fachkräfte von ausländischen Bäumen pflücken. Was für eine Arroganz auch zu meinen, die anderen, zumeist ärmeren Länder sollten die Kosten für die Ausbildung zahlen, von der wir dann profitieren. Baustein einer guten Einwanderungspolitik wäre es daher, diejenigen, die real kommen, zu qualifizieren, damit sie hier arbeiten können. Es braucht dafür eine öffentliche Rhetorik, die den Alarmismus abstellt und aufhört, Einwanderer als Pauschalbedrohung darzustellen.
2001, zur Zeit der ersten rot-grünen Regierung, hätte Deutschland fast ein zukunftsweisendes Einwanderungsrecht bekommen. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hatte zu diesem Zweck eine überparteiliche Kommission unter dem Vorsitz der langjährigen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) eingesetzt und entwarf auf der Basis ihrer Vorschläge ein Zuwanderungs- und Integrationsgesetz, das heute noch vorbildlich ist: Darin fanden sich eine Quotenregelung für die Einwanderung und ein Punktesystem für Einwanderer. Bundestag und Bundesrat sollten, so der Plan, über die jährliche Einwanderungsquote entscheiden. So hätte ein System entstehen können, welches das Asylverfahren entlastet und den Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland deckt. Entstanden ist dann leider – nichts. Das Süssmuth-Schily-Gesetz wurde von der CDU/CSU blockiert.
Immerhin: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampelkoalition von 2023 hat den Faden von 2001 wieder aufgenommen. Sie strickt daraus nur viel zu wenig; es reicht nicht einmal für einen Topflappen, um die heißen Eisen anzufassen. Die Ampel hat Angst vor der eigenen Courage.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 27.06.2024 in der Süddeutchen Zeitung.