Einem Propheten wird nachgesagt, er könne in die Zukunft blicken und sie vorhersagen. Er gilt also als eine Art Kaffeesatzleser ohne Kaffeesatz. Das ist falsch! Ein Prophet ist ein Wahrsager, aber im ganz buchstäblichen Sinn. Er sagt jene unangenehmen Wahrheiten, die keiner hören will. Er spricht aus, was kommen wird, wenn alles so weitergeht. Nicht weil er in die Zukunft blickt, sondern weil er aufmerksam die Gegenwart betrachtet.
„Das Lied des Propheten“ heißt Paul Lynchs sprachgewaltiges Buch, für das er mit dem Booker Preis 2023 ausgezeichnet worden ist. Es spielt in einem fiktiven Irland, das sich immer mehr in einen autoritären Terrorstaat verwandelt. Die Geschichte beginnt damit, dass es an der Tür klopft. Zwei Geheimpolizisten wollen Larry sprechen. Der wird bald verschwinden. Man ahnt: auf Nimmerwiedersehen. Und man wird Zeuge, wie seine Frau Eilish mit ihren vier Kindern vergeblich versucht, zunächst ihre Normalität, dann ihr nacktes Leben zu behaupten. Dies geschieht nicht in einem entfernten Failed State. Es sind nicht die anderen, die vom Grauen verschlungen werden. Es ist die vertraute westliche demokratische Welt, die Risse bekommt und schließlich auseinanderbricht. Mit diesem literarischen Kunstgriff zieht Lynch uns unmittelbar hinein ins Geschehen. Wer meint „Hier und mir kann das nicht passieren“, wird das nicht mehr vollmundig behaupten, wenn er das Buch aus der Hand legt. Es ist keine Freude, es ist kein Vergnügen, das Buch zu lesen. Es ist erschütternd, oft herzzerreißend – und es ist zugleich unglaublich fesselnd.
Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo … nein, kein Lichtlein her, kein einziges. Es kommt die nächste Katastrophe. Paul Lynch gönnt seinen Lesern nicht einen Moment, um aufzuatmen oder zu schmunzeln. Atemlos geht es immer tiefer in die Dunkelheit, bis – aber lesen Sie selbst.
Die prophetischen Reden vom Weltuntergang sind nicht von gestern, weiß Lynch: „Der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen, dass die Welt immer wieder aufs Neue an einem Ort endet, aber nicht an einem anderen, und dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist.“ Man könnte Paul Lynchs Werk als Klagelied eines Propheten bezeichnen und zugleich hoffen, dass nie Wirklichkeit wird, was er singt. Genau das ist ja der Grund, warum die Propheten ihre Unheilsreden verkündet haben: Damit die, die ihnen zuhören, alles tun, damit dieses Unheil nicht eintrifft.
Paul Lynch: Das Lied des Propheten ist im Juli dieses Jahres bei Klett-Cotta erschienen. Das Buch hat 320 Seiten und kostet 26 Euro.