Ihr Zerstörungspotenzial ist apokalyptisch. Doch achtzig Jahre nach Hiroshima ist die Gefahr eines nuklearen Krieges nicht geschwunden, sondern gewachsen. Auf der Suche nach Friedensklugheit.
Hiroshima und Nagasaki haben nicht ausgereicht, um die Menschheit friedensklug zu machen. Im Gegenteil: „Der Frieden ist auf dem Rückzug.“ Mit diesem bitteren Satz beginnt das Gutachten der deutschen Friedensforschungsinstitute des Jahres 2025. Es ist dies ein Gutachten, das zeigt, dass nichts gut ist. Es ist ein Gutachten, das Sätze schreibt, die sich in Kopf und Herz einbrennen: „Das System der Rüstungskontrolle befindet sich (…) im freien Fall.“ Und: „Im humanitären Völkerrecht stehen die Zeichen auf Normverfall.“ Fall und Verfall: Damit sind die politischen Entwicklungen der Gegenwart ebenso elend wie richtig beschrieben. Wo Gefahr ist, sagt Hölderlin, wächst das Rettende auch. Wo ist das Rettende? Ist Aufrüstung das Rettende?
Vor genau vierhundert Jahren, im Jahr 1625, hat vor dem Hintergrund der konfessionellen und politischen Wirren des Dreißigjährigen Krieges der holländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius seine „Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens“ geschrieben; er gilt damit als der Vater des Völkerrechts. Völkerrecht ist regulierte Konfliktaustragung und Konfliktbeendigung. Das Werk von Grotius lag vorbildstiftend bei den Verhandlungen auf dem Tisch, die 1648 zum Frieden von Münster und Osnabrück führten. Die Welt bräuchte heute einen neuen Hugo Grotius, sie bräuchte ein viertes Buch; darin müssten die Wege zum Frieden in atomaren Zeiten beschrieben sein.
Die zerstörerische Kraft der Atombomben überraschte selbst ihre Väter
Diese atomaren Zeiten haben Jubiläum. Vor achtzig Jahren fielen die ersten zwei Atombomben, am 6. August 1945 auf Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki. Allein in Hiroshima wurden etwa hunderttausend Menschen sofort getötet; an Folgeschäden starben bis Ende 1945 weitere 130 000 Menschen. In beiden Städten lagen große Teile der Innenstädte in Trümmern.
Am 2. August 1939 hatte Albert Einstein, eigentlich Pazifist, einen Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt unterschrieben, in dem er davor warnte, Nazi-Deutschland könne eine Atombombe bauen. Er schlussfolgerte aus dieser Befürchtung den Rat, die USA sollten selbst so eine Bombe herstellen. Die USA starteten ihr hoch geheimes Manhattan-Projekt unter Leitung von Robert Oppenheimer. Nachdem „Little Boy“ und „Fat Man“, die Ungeheuer mit den putzigen Namen, auf Befehl von Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden waren, als also Einstein, Oppenheimer und andere Wissenschaftler die realen Folgen sahen, änderten sie ihre Gesinnung gründlich. Einstein distanzierte sich scharf, Oppenheimer trat vom Projekt zurück und verabschiedete sich von Harry Truman mit den Worten: „Mr. President, ich habe Blut an meinen Händen.“ Er wurde zum erbitterten Gegner der atomaren Aufrüstung.
Heute besteht wieder die Gefahr eines Euroshima
Der Philosoph Günther Anders warnte 1956 in seinem Buch über „Die Antiquiertheit des Menschen“ vor einer „Apokalypse-Blindheit“; er beschrieb die Unbeherrschbarkeit der nuklearen Waffen angesichts menschlicher Fehleranfälligkeit. Der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker verurteilte 1957 den Glauben daran, dass atomare Abschreckung schütze: „Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“ Das war die Situation im Kalten Krieg. Hunderttausende Menschen demonstrierten 1983 ff. für „ein atomwaffenfreies Europa“.
Die Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl hielten indes Nachrüstung für notwendig, um auf diese Weise Abrüstungsverhandlungen der Supermächte zu forcieren. Der SPD-Politiker Egon Bahr sagte dazu später, es sei dies der Versuch gewesen, eine Art Erpressungssituation zu schaffen. Diese Erpressung hatte seinerzeit Erfolg. Der Vertrag zur Abrüstung atomarer Mittelstreckenraketen (INF) wurde 1987 von den Staatschefs Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet – aber dann 2019 von den USA unter US-Präsident Donald Trump wieder gekündigt. Die Gefahr eines Euroshima, die in den späten Achtzigerjahren mit Glück und Entschlossenheit gebannt worden war, besteht heute wieder. Wer bannt sie jetzt?
Präventivschläge müssen glaubwürdig geächtet werden
Vor 15 Jahren noch galten die in Deutschland deponierten US-Atomwaffen hierzulande als Gefahr; der Bundestag beschloss daher 2010 mit breiter Mehrheit, auch mit den Stimmen der Union, die Bundesregierung solle sich „mit Nachdruck für den Abzug einsetzen“. Seit dem Überfall Putins auf die Ukraine gilt die atomare US-Präsenz aber nicht mehr als Gefahr, sondern als Schutz – als Schutz durch Abschreckung. Das Konzept sieht so aus: US-Soldaten machen im Ernstfall die in Deutschland deponierten Atomwaffen scharf; sie werden dann, das ist die deutsche „Teilhabe“, von einem deutschen Kampfjet „ins Ziel getragen“, also abgeworfen.
Die deutsche Sorge gilt heute der Frage, ob das auch so bleibt, ob also der nukleare US-Schutz verlässlich ist. Und weil es Zweifel an Trumps Verlässlichkeit gibt, wird eine deutsche Teilhabe an den nuklear-militärischen Konzepten Frankreichs und Großbritanniens erörtert. Kanzler Friedrich Merz erwägt, mit Paris und London über einen nuklearen Schutzschirm für Europa zu reden. Ein solcher Schutzschirm wird, wenn er aus taktischen Atomwaffen, also aus solchen mit geringerer Sprengkraft besteht, für kalkulierbar gehalten. Das ist freilich eine blauäugige Hoffnung, weil auch reduzierte Sprengkraft totale nukleare Eskalation auslösen kann.
Mittel- und langfristig liegt das europäische Heil nicht in einer nuklearen Teilhabe, sondern in der Teilhabe an neuen Abrüstungsinitiativen. Die sind derzeit noch wenig wahrscheinlich, aber mittel- und langfristig wichtig – und eine europäische Aufgabe. Warum? Ein Krieg mit Atomwaffen wäre das Ende Europas. Um die Zeit bis zu neuen Abrüstungsverhandlungen zu sichern, wäre es gut, jegliche Angriffe zu Verteidigungszwecken kategorisch auszuschließen. Angriff ist nicht die beste Verteidigung: Präventivschläge als Militärstrategie müssen daher explizit und glaubwürdig geächtet werden. Das schafft womöglich und hoffentlich eine erste Basis für Abrüstungsverhandlungen. Das Gedenken an den 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, genannt Befreiung, liegt hinter uns. Abrüstung ist die neue Befreiung.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 31.07.2025 in der Süddeutschen Zeitung.