Die Zeiten der Partei sind vorbei. Sie erlebt ihr blaues Wunder. Wenn sie ihre eigene Jugend nicht mehr anziehen und begeistern kann – wie soll sie die Wählerschaft anziehen und begeistern?

Kolumne von Heribert Prantl

Das grüne Wunder ist vorbei; die Grünen erleben ihr blaues Wunder. Die grüne Partei konstatiert mit Entsetzen die rasenden Erfolge der AfD; und sie erinnert sich an die Zeit, als sie selbst noch so rasende Erfolge hatte. Diese Zeiten liegen noch gar nicht lange zurück. Bei der jüngsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, es war im Mai 2022, verdreifachten die Grünen ihr bisheriges Ergebnis auf 18,2 Prozent; die grüne Partei war damals die einzige, die bei insgesamt gesunkener Wahlbeteiligung ihre absolute Stimmenzahl steigern konnte. Der grüne Trend hat sich umgedreht; er hat sich so schnell umgedreht, wie sich kaum je ein Trend in der Geschichte der Bundesrepublik umgedreht hat.

Die Zustimmungswerte für die grüne Partei sind brutal gefallen; sie fallen in ein gewaltiges Loch – in das Loch, in das die Grünen schon vor Langem ihre Antikriegspolitik und vor Kurzem ihre bisherige Asyl- und Flüchtlingspolitik geworfen haben. Beides war einmal grüne Kernpolitik. Vom utopischen Überschuss, der stets zu dieser Partei gehörte, ist nichts mehr zu spüren. Aus dem moralischen Rigorismus von einst ist ein Anpassungsrigorismus geworden. An die Stelle von Anziehungskraft ist eine Abstoßungskraft getreten. Das heißt, um einen legendären Spruch von Wolfgang Schäuble zu zitieren: „Isch over“. Schäuble hat ihn 2015 mit Blick auf das Auslaufen eines EU-Hilfsprogramms für Griechenland gebraucht. Heute gilt es für die grüne Partei.

Es gibt einen neuen Spitznamen für die Grünen – pointiert und ungut

Die Abstoßungskraft zeigt sich auch innerhalb der Partei. Die Vorstandschaften der Grünen Jugend treten reihenweise zurück – der Bundesvorstand der Jugend ist komplett abgetreten, es folgten die Landesvorstände der Grünen Jugend in Bayern, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Die meisten der zurückgetretenen Vorstandsmitglieder ziehen sich nicht einfach nur zurück, sondern sie verlassen die Partei ganz, sie beklagen einen Rechtsruck der grünen Partei und reden davon, eine neue linke Bewegung zu gründen. Das mag blauäugig sein, ist aber Ausdruck eines Entfremdungsprozesses, der schon vor Längerem begonnen hat, aber jetzt, mit dem Kanzlerkandidaten Robert Habeck, kulminiert. Die Altvorderen der Partei, frühere grüne Ministerinnen und heutige grüne Minister, geben sich abgeklärt. Sie sollten es nicht sein; sie verraten damit ihre eigene Vergangenheit in der Partei.

Mitunter wird die grüne Partei neuerdings „BRH“ genannt, „Bündnis Robert Habeck“. Das ist bezeichnend, pointiert und ungut. Gewiss: Habeck ist ein Homo sympathicus, aber zugleich einer, den man sich, seit er Bundeswirtschaftsminister ist, auch in einer leicht angegrünten FDP vorstellen könnte. Das reduziert die grüne Partei aber auf Schmalspur. Bezeichnend ist, dass alle Umweltverbände Trauer tragen: Das gilt für den Naturschutzbund (Nabu), das gilt beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), das gilt bei der Deutschen Umwelthilfe, das gilt beim World Wide Fund for Nature (WWF), das gilt bei Greenpeace. Gewiss ist es so, dass sich Parteien wandeln. Wenn sich aber dabei das Gefühl einstellt, dass sie sich im Wandel nicht treu bleiben, ist es schlecht: Bei den Grünen findet seit Jahren eine Entfremdung von sich selbst statt. Die Fahne der anderen Meinung wird dort versteckt. Die Folgen zeigen sich jetzt.

Das grüne Wunder hatte seine letzte große Zeit zu Beginn der Ampel

Die Grüne Jugend ist keine sehr große Organisation, sie hat nicht einmal zwanzigtausend Mitglieder; aber sie ist ein Indikator dafür, was sich in der Partei tut und wie sie in der politischen Landschaft in Deutschland steht. Wenn die grüne Partei ihre eigene Jugend nicht mehr anziehen, wenn sie ihre eigene Jugend nicht mehr begeistern kann – wie soll sie die Wählerschaft anziehen und begeistern? Bis etwa Mitte 2022 konnten sich die Grünen noch fast alles leisten, was sich andere Parteien nicht leisten konnten. Sie konnten ihre Ideale der Macht opfern, es schien ihnen nicht zu schaden. Sie wurden vom Zeitgeist getragen. Das war nicht unverdient, denn die Grünen hatten diesen Zeitgeist mitgeschaffen. Sie ernteten die Früchte ihrer idealistischen Jahre, in denen sie als Anti-Parteien-Partei geackert hatten. Dieses grüne Wunder hatte seine letzte große Zeit vor und zu Beginn der Koalition Scholz. Die Umfragezahlen stiegen und stiegen, auf weit über zwanzig Prozent. Es war das letzte Aufwallen des grünen Zeitgeistes bevor dieser, nicht ohne eigene Schuld der Grünen, verwehte.

In der grünen Partei, wie sie sich heute darstellt, ist schon kaum vorstellbar, dass dort einmal ein genialer und fleißiger Unruhegeist wie Hans-Christian Ströbele sein Zuhause hatte. Ströbele ist im August 2022 gestorben. Mit ihm, und wenig später mit Antje Vollmer im März 2023, starb die alterslose Aufmüpfigkeit der grünen Partei. Isch over. Da hilft keine Wärmepumpe. Die Partei hat noch eine kleine Zukunft als kleiner Koalitionspartner der CDU.

Ihr Zustand ist symptomatisch für die Ampel

Gewiss: Öffentliche Abneigung und öffentliche Zustimmung wechseln schnell; das ist ein Kennzeichen der internetgestützten politischen Moderne. Wählerinnen und Wähler werden magnetisch angezogen und abgestoßen vom Gewese, das um Parteien, Personen und Themen gemacht wird; sie sind aber meist auch bald wieder gelangweilt. Das erleben wir in immer schnellerer Abfolge; auch stabile Kraftfelder sind instabil geworden. Solche Zeitgeist-Erklärungen allein erklären aber die Malaise der Grünen nicht.

Ihr Zustand ist symptomatisch für den der Ampelkoalition. Eine Koalition soll ein Bündnis sein auf Gedeih, nicht auf Verderb. Im Idealfall weist daher ein Koalitionsvertrag über die Legislaturperiode hinaus. Bei der Ampelkoalition funktioniert das nicht; es gedeiht wenig, es verdirbt viel; es verderben vor allem die Zustimmungswerte für jede der drei Koalitionsparteien. Vor knapp drei Jahren, als der Koalitionsvertrag geschlossen worden war, erklärte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in der SZ, dass man das Ampelbündnis für mehr als eine Wahlperiode anstreben wolle. Von dieser Absicht war dann wenig bis gar nichts zu spüren. Es liegt eine Art Endzeitstimmung über den Akteuren. Isch over.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 02.10.2024 in der Süddeutchen Zeitung.