Der Journalismus heißt so, weil er für den Tag gemacht ist. Es gibt aber journalistische Texte, die sind unbegrenzt haltbar, haltbarer jedenfalls als viele Bücher. Dazu gehören die Reisereportagen von Joseph Roth. Der Journalist und Schriftsteller Joseph Roth, 1894 geboren im galizischen Städtchen Brody in der heutigen Ukraine, reiste in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Auftrag der Frankfurter Zeitung in die postrevolutionäre Sowjetunion, nach Kiew, Moskau, Odessa, Astrachan.

Eine Auswahl dieser Reportagen ist, herausgegeben von Jan Bürger, unter dem Titel „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ bei C.H.Beck erschienen, mittlerweile schon in der sechsten Auflage von 2022. Der neue Erfolg, bald hundert Jahre nach der ersten Publikation der Texte, hat gewiss auch damit zu tun, dass man die Reportagen heute im Lichte des Putin-Krieges liest oder lesen möchte; ein paar Überschriften und bissige Bemerkungen verleiten dazu. Natürlich findet man in den Reportagen keine Handreichungen für die Lösung der Konflikte von heute. Aber man findet dort geniale Beschreibungen und Betrachtungen, die animieren und anregen: Man begleitet einen brillanten Schriftsteller auf seiner journalistischen Reise, befruchtet, gepackt und fasziniert von einer schier unglaublichen Erzählkraft. Es sind Geschichten dabei, die man in ihrer Eindrücklichkeit nie mehr vergisst. Die Geschichte über ein Invalidenbegräbnis, einen Leichenzug der Kriegsinvaliden im Jahr 1924 beispielsweise. Sie endet so: „Über dem Leichenzug segelte eine dunkelblaue Wolke, zackig, wuchtig und schwer, und streckte vorne einen Zipfel aus, wie einen zerfetzten Zeigefinger, um den Krüppeln den Weg nach dem Friedhof zu weisen.“

Joseph Roth, Reisen in die Ukraine und nach Russland. Herausgegeben von Jan Bürger, soeben bei C.H. Beck textura erschienen in der 6. Auflage 2022. Das Buch hat 136 Seiten und kostet 14,95 Euro.

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