Das geplante Endlager im Wendland wird seit einer Woche zugeschüttet. Politik und Gesellschaft prallten hier über Jahrzehnte aufeinander. Eine Lektion.
Kolumne von Heribert Prantl
In Gorleben hat die deutsche Politik viel gelernt. Sie hat gelernt, dass man mit Wasserwerfern Demonstranten zwar wegspritzen, aber keine Überzeugung herbeispritzen kann. Sie hat gelernt, dass man mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot und notfalls drakonischen Mitteln zwar innere Sicherheit herstellen, aber keinen inneren Frieden erzwingen kann. Sie hat gelernt, dass Polizeibeamte nicht die Gebrechlichkeitspfleger einer Regierung sind und auch nicht die Mediatoren einer gespaltenen Gesellschaft. Nicht zuletzt in Gorleben hat die Politik gelernt, dass Atomkraftwerke in Deutschland keine Zukunft haben. Dieser Lernerfolg muss bleiben, wenn das Kapitel Gorleben nun endgültig vorbei ist: Der Salzstock Gorleben, das dortige Projekt „Atomares Endlager“, ein Endlager-Erkundungsbergwerk, wird seit einer Woche zugeschüttet mit 800 Tonnen Salz pro Tag; 400 000 Tonnen insgesamt werden es in den kommenden drei Jahren sein.
Dieses Gorleben war und ist ein Lernort. Es war ein jahrzehntelanges, anstrengendes, einschneidendes, tiefschürfendes, erschütterndes und geschichtsveränderndes Lernen. Gorleben wurde in langen Jahren ein Symbol für die ungeklärten Großrisiken der Atomwirtschaft. Gorleben ist heute das deutsche Wort dafür, Fukushima das japanische. In Gorleben im Wendland spielt das deutsche Lehrstück für die Irrungen und Wirrungen der atomaren Politik, für politische Intransparenz, Rechthaberei und Sturheit. In Gorleben im Wendland spielt aber auch ein Lehrstück für Zivilcourage – getragen von bodenständigen Landwirten, von kritischen Hausfrauen und Lehrern, von Bürgerinnen und Bürgern; und hier spielt ein Lehrstück für zivilen Widerstand, der immer dann besonders aufflammte, wenn Atommüll aus den ausländischen Wiederaufarbeitungsanlagen ins Zwischenlager nach Gorleben transportiert wurde.
Es war ein langes Lernen: Die Schule von Gorleben hat ein halbes Jahrhundert gedauert. In dieser Zeit ist, auch begleitet und beflügelt von den Protesten gegen Gorleben, die grüne Partei entstanden. Und zuletzt hat die CDU/CSU unter der Kanzlerin Angela Merkel lernen müssen, dass ihr nuklearer Glaube ein Aberglauben war. Das war für die Union, die mit diesem Glauben an eine strahlende nukleare Zukunft viele Dutzende Wahlkämpfe bestritten hatte, ein Kulturschock und eine Katastrophe, die sie noch nicht verdaut hat. Die Regierungspolitik hatte den bürgerlichen Protest gegen die Kernenergie oft genug in einen Topf mit kriminellen Anschlägen geworfen; die große Mehrheit hat sich einfach auf die Straße neben den Verladekran gesetzt, wenn ein neuer Castor-Transport kam, die ganze Nacht, hat Kerzen angezündet, war freundlich zu den Polizisten und hat nur dadurch provoziert, dass sie versuchte, partout nicht zu provozieren.
Auch in der konservativen Politik wuchs die Einsicht, dass ein Jahrzehnte andauernder Protest wohl einen Punkt hat
In Gorleben haben die Menschen genau das getan, was sich die Politik sonst so gern von ihnen wünscht: Sie haben sich hineingearbeitet in die hoch komplizierte nukleare Materie, sie haben sich organisiert, sie haben zusammengehalten, sie haben ihre Freizeit geopfert, sie haben sich in die Problematik der Endlagerung hineingearbeitet und gelernt, was es mit der unendlich strahlenden Zukunft des Atommülls auf sich hat: Nach wissenschaftlicher Erkenntnis muss der für eine Million Jahre sicher verwahrt werden. Sie haben sich einer wichtigen Sache verschrieben. Kinder sind aufgewachsen mit dem Protest gegen Gorleben; der Widerstand ist gewachsen, er wurde zur Volksbewegung – der nach der Katastrophe von Fukushima auch diejenigen erfasste, die sich bis dahin noch nicht klar positioniert hatten. Und auch in der konservativen Politik wuchs die Einsicht, dass nicht der Protest, sondern eine Politik unnormal ist, wenn der Protest gegen sie so groß ist und jahrzehntelang anhält, weil er auf die nicht beherrschbaren Hochrisiken verweist. Der Ausstieg aus der Kernenergie, der am 15. April 2024 finalisiert wurde, als die drei letzten AKWs in Deutschland vom Netz gingen, konnte nur gelingen, weil eine zivil couragierte Gesellschaft ihn nachhaltig vorbereitet hatte: In Gorleben war nicht nur ein Sisyphos, da waren viele Sisyphosse dabei, das Bewusstsein für die Gefahren der Kernenergie wachzuhalten; sie waren eine Gegenmacht zur Kommunikations-, Geld- und Lobbyistenmacht der Atomenergiekonzerne, die zuletzt noch im Spätsommer 2010 von der schwarz-gelben Regierung Merkel eine Laufzeitverlängerung für ihre Atommeiler erwirkt hatten.
Seit dem Atomausstieg der Regierung Merkel nach Fukushima im Jahr 2011 setzt sich der Widerstand im Wendland vor allem für den Ausbau regenerativer Energien ein. Es gibt aber Leute, die schon wieder von einer Wiederkehr der Kernenergie träumen; Fukushima ist schon wieder verblasst, die großen Gorleben-Proteste sind vorbei, und der Putin-Krieg gegen die Ukraine hat die Atomkraft-Sehnsüchte wieder hochgespült, weil man unabhängig von russischem Öl und Gas sein will. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gehört zu den Atomträumern; der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz träumt auch ein wenig. Man hört von ihnen ein vages Reden, dass mit der Atomkraft doch alles billiger und besser und zugleich die Kernkraft doch ein guter Klimaschutz sei. Zugleich scheut Söder aber schon das bloße Nachdenken über ein Endlager in Bayern wie der Teufel das Weihwasser. In den Koalitionsvertrag mit den Freien Wählern hat er daher hineinschreiben lassen, dass ein Endlager in Bayern völlig und kategorisch ausgeschlossen sei. Warum? Er hat Angst davor, dass, zum Beispiel, aus der schönen Gemeinde Thurmansbang im Landkreis Freyung-Grafenau ein neues Gorleben wird – und die Niederbayern ihm und der CSU aufs Dach steigen.
Angela Merkel hat in ihrer soeben erschienen Autobiografie auf Seite 608 ihre Antwort auf Söder, Merz und andere sehr knapp und bündig wie folgt formuliert: „Ich kann Deutschland auch in Zukunft nicht empfehlen, wieder in die Nutzung der Kernenergie einzusteigen. Wir können die Klimaziele auch ohne Kernenergie erreichen, technologisch erfolgreich sein und damit auch anderen Ländern der Erde Mut machen.“ Aus der Reaktorministerin Merkel im Kabinett Kohl des Jahres 1994 ist eine Umweltpolitikerin geworden. Sie nimmt sich die Freiheit, das zu sagen, was sie aus Fukushima und Gorleben gelernt hat. Es war und ist ein gutes Lernen.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 05.12.2024 in der Süddeutchen Zeitung.