Zu Weihnachten mag ich Ihnen einen Schmöker empfehlen. Das Buch ist eigentlich kein Schmöker, sondern ein sehr kunstvoller, ein fantastischer Roman von magischer Kraft. Aber weil man ein Buch, das man gar nicht mehr aus der Hand legen mag, gern einen Schmöker nennt, bezeichne ich es auch so. Es ist kein neuer Roman, er steht nicht auf den aktuellen Bestsellerlisten, er ist schon alt; aber er gehört auf die ewige Bestsellerliste. Leo Perutz hat den Roman vor hundert Jahren in Wien zu schreiben begonnen und 1951 in Tel Aviv vollendet. Und ich habe ihn an Weihnachten 1994 zum ersten Mal gelesen – gebannt und hingerissen.

Er handelt von einer Liebesgeschichte zwischen Kaiser Rudolf II. und der schönen Jüdin Esther im alten Prag an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert und heißt „Nachts unter der steinernen Brücke“. Mit dieser einen Liebesgeschichte ist eine ganze Kaskade anderer Erzählungen aufs Spannendste verwoben – über Johann Kepler, den Astronomen; über den reichen Juden Mordechai Meisl, über den Rabbi Löw. Ich habe mich an diese meine lang zurückliegende Weihnachtslektüre wohl auch deshalb erinnert, weil Daniel Kehlmann jüngst in einem kleinen Büchlein hymnisch über Perutz geschrieben und ihn dort „den unbekanntesten Großmeister der deutschen Literatur“ genannt hat.

Da fiel mir wieder ein, wie süchtig ich nach der Nacht unter der steinernen Brücke nach Leo Perutz war. Perutz war nach Karl May, Dostojewski und Brecht für mich der Autor, von dem ich möglichst alles lesen wollte. Da war „Der schwedische Reiter“, da war „Der Meister des jüngsten Tages“. Und da war der sensationelle literarische Erfolg aus der Zeit zwischen den Weltkriegen: „Wohin rollst du, Äpfelchen“, der vom Schicksal eines einstigen Offiziers handelt, der die Demütigungen im russischen Kriegsgefangenenlager nicht vergessen kann und sich daher auf eine Rache-Odyssee durch halb Europa begibt – an deren Ende er die Rache verlernt und vergisst. Wer gefesselt neben dem Christbaum sitzen will, der lese Leo Perutz.

Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke. Den Roman gibt es in verschiedenen Ausgaben. Am preiswertesten ist die dtv-Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 2004, sie hat 267 Seiten und kostet 12 Euro.