Wie wehrhafte Demokratie im Jahr 2024 ausschauen muss – und wie der Sozialdemokrat Herbert Wehner diese Wehrhaftigkeit im Jahr 1950 verstanden hat.

Kolumne von Heribert Prantl

Von der wehrhaften Demokratie wird heute viel geredet; aber es wird nicht viel für sie getan. Die wehrhaften Artikel des Grundgesetzes werden mit spitzen Fingern angefasst; und sie werden betrachtet, als handele es sich um eine Jugendsünde des Parlamentarischen Rates aus den ganz frühen Tagen der bundesdeutschen Demokratie. Soeben, bei den Feiern zum 75. Grundgesetzjubiläum, wurde so getan, als müsse man sich für diese Artikel genieren, die aktuell als Anti-AfD-Artikel gehandelt werden: Da ist zum einen der Artikel 21 Absatz 2, in dem es um das Verbot einer Partei geht, bei der man nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger davon ausgehen muss, dass sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder beseitigen will. Und da ist zum anderen der Artikel 18, in dem es darum geht, Verfassungsfeinden ein vorübergehendes politisches Aktionsverbot zu erteilen.

Über die einschlägigen Anträge von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden; aber wenn einschlägige Anträge nicht gestellt werden (im Parlament reicht dafür eine einfache Mehrheit), kann das Gericht auch nicht entscheiden. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die sich mehrheitlich scheuen, gegen die AfD und/oder gegen Björn Höcke & Co. Verbots- und Verwirkungsanträge zu stellen, begründen das gewunden damit, dass man den Kampf gegen Extremisten nicht juristisch, sondern politisch führen müsse. Aber von diesem politischen Kampf merkt man wenig. Und so ist der aktuelle Versuch von ein paar Handvoll Abgeordneten, doch noch eine parlamentarische Mehrheit für solche Anträge zu gewinnen, ein Unterfangen, über das sich die Erfinder der wehrhaften Demokratie freuen würden. Es waren dies der geniale Verfassungsrechtler Karl Loewenstein und der glänzende Soziologe Karl Mannheim. Karl Loewenstein floh 1933 vor den Nazis von der Uni Heidelberg in die USA, lehrte dann an der Yale University und am Amherst College; Karl Mannheim, Professor an der Uni Frankfurt, floh nach Großbritannien, lehrte sodann in London.

„Um zu überleben, muss unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden.“

Loewenstein und Mannheim haben die Lehre von der wehrhaften Demokratie entwickelt. Karl Loewenstein kritisierte schon 1937 das wertrelativistische Demokratieverständnis der Weimarer Verfassung, das es erlaubt habe, Demokratie mit jedwedem Inhalt auszufüllen; sie habe es so den erklärten Feinden der Demokratie ermöglicht, „legal und systematisch“ auf deren Beseitigung hinzuarbeiten. Der große Verfassungsjurist propagierte daher einen unantastbaren Wertekonsens als Kern und Essenz der Demokratie. Die Wahl-Mechanismen der Demokratie, so schrieb er, dürften nicht zum trojanischen Pferd werden, „mit dem der Feind die Stadt erobert“. Und Karl Mannheim postulierte: „Um zu überleben, muss unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden.“ Im Artikel 21 Absatz 2 und im Artikel 18 des Grundgesetzes manifestiert sich diese Streitbarkeit.

Die demokratischen Parteien der Bundesrepublik gehen bisher diesem Streit aus dem Weg. Sie knicken ein vor der Wucht der Prozente, die die AfD derzeit erringt – und erklären dieses Einknicken zur politischen Klugheit.

Es handelt sich aber nicht um Klugheit, sondern um Kleinmut, um fehlendes demokratisches Selbstbewusstsein und um fehlenden Stolz auf diejenigen Verfassungsartikel, die die Wehrhaftigkeit der Demokratie konstituieren. Indes: Wer, wie dies die AfD tut, gegen Minderheiten hetzt und aggressive völkische Positionen in die Politik pumpt, der soll das nicht auch noch mit steuerlicher Förderung und in den Räumen des demokratischen Gemeinwesens tun dürfen. Das widerspricht der Würde des Parlaments und den Werten der Demokratie.

Die Würde des Menschen steht nicht unter dem Vorbehalt eines Wahlergebnisses; sie muss unantastbar bleiben – auch wenn die Partei, die diese Würde antastet, dreißig Prozent der Stimmen erhält. Es gilt also, den Weg von Staat und Gesellschaft nach rechts außen mit Kraft und Entschlossenheit zu versperren. Das ist der Auftrag des Grundgesetzes; das ist das Vermächtnis der Widerständler, die die Naziherrschaft überlebt hatten und 1948/49 im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz formulierten.

Was der Altnazi Wolfgang Hedler im Jahr 1949 in einer Rede erklärte

Es braucht den Mut, das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung, die SPD-Abgeordnete einstmals hatten, als sie, angeführt von Herbert Wehner, am 10. März 1950 den Altnazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag drängten – handgreiflich. Hedler, ein einstiger Stahlhelm-Mann und Altparteigenosse der NSDAP, war Abgeordneter für die damals unter Kanzler Konrad Adenauer mitregierende Deutsche Partei. Hedler hatte am 25. November 1949 im schleswig-holsteinischen Einfeld in einer Rede erklärt: „Die Deutsche Partei stellt fest, dass Deutschland die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat“; schuld seien vielmehr „die Widerstandskämpfer“, die er des „Verrats“ und der „Sabotage“ bezichtigte. Und zum Holocaust hatte sich Hedler so geäußert: „Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen.“ Hedler war, man kann es kaum glauben, von der Nachkriegsjustiz für diese Hetzereien in erster Instanz freigesprochen worden.

Als er in Interviews in einem Salon des Bundestags seine Tiraden fortsetzte, zerrten ihn Sozialdemokraten mit Körpereinsatz aus seinem Sessel und drängten ihn durch die Gänge. Beim Rückzug vor ihnen stürzte Hedler durch eine Glastür und verletzte sich leicht. Der Einsatz gegen Hedler war, wie der Vorwärts schrieb, „ein Sinnbild für den Kampf um die junge Demokratie“. Heroisieren muss man Wehner deswegen nicht; er wurde mehrere Tage (länger als der Altnazi) von den Sitzungen des Bundestags ausgeschlossen und musste, als Hedler gegen ihn zivilrechtlich klagte, ein Schmerzensgeld bezahlen.

Man darf an diese Szene aus der Zeit des zornig-entschlossenen Ringens um die junge Demokratie auch deswegen erinnern, weil es just 55 Jahre her ist, dass Herbert Wehner Fraktionsvorsitzender der SPD wurde – bewundert und gefürchtet wegen seiner Rhetorik und seiner eisernen Disziplin; er hat 13 Jahre lang für eine Kontinuität in diesem Amt gesorgt, die es vorher nicht gegeben hatte und nachher nicht mehr gab. Handgreiflichkeiten wie 1950 gehörten als Fraktionschef natürlich nicht mehr zu seinem Repertoire; demokratische Entschlossenheit schon. Von Wehners gerechtem Zorn gegen die Anti-Demokraten sollte sich sein Nach-Nachfolger Rolf Mützenich anstecken lassen – und seine SPD-Fraktion zu den Wehrhaftigkeitsanträgen gegen die AfD animieren.

Es wäre gut, wenn auch ein Friedrich Merz diese Traute hätte. Ein Verbotsantrag gegen die AfD ist ein wichtiges Wagnis, kein eskapistisches Abenteuer. 1950 gab es noch kein Verfassungsgericht. Heute hält es den Rechtsstaat zusammen. Deshalb sind Verbotsanträge dort gut aufgehoben.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 24.10.2024 in der Süddeutchen Zeitung.