Vor etwa einer Generation hat die Verdichtung der Lebens- und Arbeitswelt begonnen; der Druck, flexibel zu sein, hat zugenommen; der Doppelverdiener-Haushalt ist der Normalfall geworden. Die Erwerbstätigkeit der Frauen war und ist ein emanzipatorischer Segen. Aber es ist nicht unbedingt ein gesellschaftlicher Segen, dass die bisherige maskuline Art, in Vollzeit und unter Ausschluss von Familienarbeit zu arbeiten, einfach dupliziert und auf Frauen abgepaust worden ist. Der Markt hat sich die Emanzipation auf diese Weise zunutze gemacht.
Die Spielregeln des Marktes mit ihren alten Vorzeichen für die Erwerbsarbeit wurden einfach fortgeschrieben und auf Frauen ausgedehnt. Die Spielregeln sind damit angeblich „geschlechtergerecht“ geworden. Wirklich? Richtig und gut für alle Geschlechter wäre es, sie würden menschengerecht werden – zum Beispiel durch eine erhebliche Reduzierung der Arbeitszeiten für alle. Dann bliebe den arbeitenden männlichen, weiblichen und diversen Menschen wieder Zeit für die soziale Sorge – für die Sorge in der Familie und auch für das Ehrenamt in der Gemeinschaft. Kurz: Unserer Art des Arbeitens und des Wirtschaftens fehlt die soziale und fürsorgliche Dimension.
Das imperiale Temporegime und der Widerstand dagegen – das ist das große Thema des weisen alten Gesellschaftsethikers Friedhelm Hengsbach. Er ist Mitglied des Jesuitenordens, studierter Philosoph, Theologe und Wirtschaftswissenschaftler; er war Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und 14 Jahre lang Leiter des Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik; und er ist ein herzlicher, sehr zugewandter Mensch. Kurz vor seinem 85. Geburtstag hat er nun sein Werk „Die Zeit gehört uns“ aus dem Jahr 2012 überarbeitet, erweitert und im Westend-Verlag als Taschenbuch publiziert. Unter dem Eindruck der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs entwickelt er Perspektiven für einen gesellschaftlichen und politischen Aufbruch. Er spannt den Bogen von der Umkehr des persönlichen Lebenstils hin zu strukturellen Umbauten der internationalen Finanzarchitektur und zur Sanierung des blauen Planeten.
Hengsbach ist ein kluger Denker und ein guter Schreiber. Bei ihm ist Ethik kein Geschwurbel, sondern eine lebenspraktische Angelegenheit. Sein Buch ist ein wunderbarer Wegweiser für eine Zeitenwende, die dieses Wort verdient – und das bei ihm nur ein einziges Mal, nämlich auf der letzten Seite auftaucht, zusammen mit einer eindeutigen Warnung: „Militärische Abschreckung sollten wir ächten, denn atomare Waffen, die nicht einsetzbar sind, dürfen gar nicht erst gelagert werden.“
Friedhelm Hengsbach, Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage 2022. Das Buch erscheint hat 304 Seiten und kostet zwölf Euro.