Wilfried Hiller hat eine Endzeit-Oper komponiert. Nicht, um Angst zu machen. Sondern, um dagegen anzutreten.
Kolumne von Heribert Prantl
Wir erleben, wie sich Krise auf Krise türmt. Wir erleben, wie die Angst grassiert. Wir erleben, wie die politische Gestaltungskraft verkümmert. Wir erleben, wie der religiöse Trost immer löchriger wird. In einer wissenschaftlichen Studie wurden zehntausend junge Leute nach ihren Zukunftsvorstellungen befragt; mehr als die Hälfte von ihnen meint, die Menschheit sei dem Untergang geweiht; zwei Drittel ängstigen sich so, dass es ihr alltägliches Leben überschattet. Zu dieser Verschattung gehört, dass der Wunsch, Kinder zu bekommen, signifikant abnimmt. Die herrschende Grundstimmung läuft darauf hinaus, dass die Welt angesichts von Kriegen, Pandemien und Hungersnöten, angesichts von Terror, Klimakollaps und Überbevölkerung nicht zu retten sei.
Die Apokalypse muss man also eigentlich nicht mehr eigens in Szene setzen; jeder kennt ihre Szenerien. Der 83-jährige Münchner Tondichter Wilfried Hiller, der meistgespielte deutsche Bühnenkomponist, der mit Kinderopern nach den Textvorlagen von Michael Ende berühmt geworden ist, macht es trotzdem, aus gutem Grund. Bei der Internationalen Orgelwoche in Nürnberg hat er soeben in der mittelalterlichen Sebalduskirche seine „Apokalypse“ uraufgeführt. Der einstige Schüler von Carl Orff nennt sein Werk (Librettist ist der evangelische Theologe Stefan Ark Nitsche) eine „Enthüllung“; das ist die Apokalypse im Wortsinn, auch wenn sie meist als Synonym für Katastrophe gebraucht wird. Das Werk ist eine Entdeckung – weil es mit spektakulären Klangbildern und mächtigem Schlagwerk gegen den grassierenden Fatalismus antritt. Aus sieben Klangschalen schüttet der Komponist Hoffnung in die Welt.
Johannes von Patmos, der Verfasser des prophetischen letzten Buches des Neuen Testaments, das Apokalypse genannt wird, meditiert in Hillers Stück inmitten von Schriftrollen, Büchern, Zeitungen, Bildschirmen und Lautsprechern über die Jammertal-Welt. Tragödien und Katastrophen stürzen auf ihn ein und bedrängen ihn. „Wo warst Du, Gott?“, schreit er. „Wo bist Du, Mensch?“, hört er als Antwort und dazu die Klage: „Mein Mensch, mein Mensch, warum hast Du mich verlassen?“ Wilfried Hillers Apokalypse ist (wie die biblische Vorlage) nicht verliebt in den Untergang. Sie entlarvt und enthüllt zwar, was passiert, wenn und weil es einfach immer so weitergeht. Seine Endzeit-Oper wird aber zu einer Aufforderung zum Handeln. Warum? Weil es nicht stimmt, dass Widerstand gegen den Unfrieden keinen Sinn hat. Es gibt kein historisches Gesetz, wonach Unmenschlichkeit exponentiell mit der Weltbevölkerung wächst, keine Zwangsläufigkeit, wonach Menschen verhungern, der Meeresspiegel steigt, Regenwälder verschwinden. Es stimmt nicht, dass nichts zu machen ist – weil „Handeln wesentlich Anfangen“ ist. Das ist nicht das Pathos von Patmos; so erklärt es, sehr nüchtern, Hannah Arendt in ihrem Vortrag „Freiheit und Politik“.
Schon Leonard Cohen sang von den Rissen, die erst das Licht einlassen
Ein anderer Tondichter, der Poet und Sänger Leonard Cohen, hat die Kontingenz der Geschichte vor gut dreißig Jahren in einem Lied besungen, das er Hymne, „Anthem“ genannt hat. Anthem ist ein Loblied auf den „Crack in everything“, den Riss in allem – „that’s how the light gets in“. Die Risse im Gehäuse der Geschichte sind es, durch die Hoffnungsschimmer fallen, auch wenn die Ereignisse selbst sich als kontinuierliche Katastrophe darstellen. Der Riss ist die Stelle, wo das Handeln ansetzen kann. Hier und jetzt, genau da, wo der Riss ist.
Dieses Hier und Jetzt will bemerkt und ergriffen werden. Man kann es bisweilen im Nachhinein mit Ort und Datum benennen – zum Beispiel den Tisch in Moskau, an dem 1955 über die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen verhandelt wurde. Konrad Adenauers und Nikita Chruschtschows Leute, Verhandlungsstrategen, die mit allen Wassern gewaschen waren, hatten sich vollkommen festgefressen. Der deutsche Kanzler ergriff das Wort und wollte Chruschtschow die Verbrechen der Roten Armee in Deutschland um die Ohren hauen. Da fiel der mitgereiste Carlo Schmid seinem Kanzler ins Wort: „Ich möchte vorausschicken, dass im Namen des deutschen Volkes am russischen Volke Verbrechen begangen worden sind wie vielleicht noch nie in der Weltgeschichte. Ich rufe darum nicht die Gerechtigkeit an, sondern die Großherzigkeit des russischen Volkes. Und wenn ich das tue, denke ich in erster Linie nicht an die Menschen, die noch hier zurückgehalten werden, sondern an ihre Frauen, an ihre Kinder, an ihre Eltern. Lassen Sie Gnade walten.“ Da war er, der „Crack“, durch den das Licht reinkam. Die Kriegsgefangenen kamen kurze Zeit danach nach Hause. Deutschland nahm volle diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion auf.
Das ist ein Beispiel dafür, was einzelne Menschen vermögen, wenn sie den Riss erkennen und den nötigen Mut haben. Es sind am Ende immer einzelne Menschen, die einander begegnen, gegenübersitzen, miteinander verhandeln. Hannah Arendt scheut sich nicht, das ein Wunder zu nennen: „Der entscheidende Unterschied zwischen den ‚unendlichen Unwahrscheinlichkeiten‘, auf denen alles Leben auf der Erde und alles natürlich Wirkliche beruht, und den Ereignis-Wundern innerhalb menschlicher Angelegenheiten ist natürlich, dass es hier einen Wundertäter gibt, den wir kennen, dass der Mensch nämlich auf eine höchst geheimnisvolle Weise dafür begabt scheint, Wunder zu tun.“
Man kann den entscheidenden Moment verstreichen lassen, man kann ihn auch ergreifen. Das, was wir Geschichte nennen, ist nicht allein eine Reihe von Entscheidungen, es ist auch eine Reihe von verpassten Entscheidungen und nicht ergriffener Freiheit. Betrachtet man die Geschichte der Kriege, so möchte man irre werden über verpasste und verratene Gelegenheiten zum Waffenstillstand. Apokalyptik enthüllt, dass der Weltuntergang weder natürliches Gesetz noch göttliches Fatum ist. Sie zielt, so kriegerisch ihre Bilder sein mögen, auf Frieden und nicht auf Krieg, auf Zuversicht und nicht auf Defätismus.
Wilfried Hillers „Apokalypse“ wurde nahe dem Dürer-Haus uraufgeführt. Albrecht Dürer hat auf seinem berühmten Holzschnitt die vier apokalyptischen Reiter losgelassen; sie sind heute atomar bewaffnet. Es wird den Crack, die Gelegenheit geben, ihnen in die Zügel zu greifen. Es wird dies das Ereignis-Wunder sein.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 04.07.2024 in der Süddeutchen Zeitung.