Dem BSW haben 9529 Stimmen für den Einzug in den Bundestag gefehlt, die Partei hat eine Neuauszählung beantragt. Was immer dabei herauskommt: Es geht um den Kern der Demokratie, um den Ausschluss jedes Zweifels, weshalb es dringend einer Reform bedarf.
Man soll nicht Richter in eigener Sache sein. Dieser Satz gehört zu den ehernen Prinzipien des Rechts. Es ist so alt, dass ihn die Jura-Studenten noch heute in seiner lateinischen Fassung lernen: Nemo judex in causa sua. Das heißt: Es soll niemand über einen Fall, über eine Streitigkeit oder über einen Sachverhalt entscheiden, in dem er selbst direkt betroffen ist, eigene Interessen hat oder Partei ist. Genau das aber geschieht im Wahlprüfungsverfahren, wie es derzeit konzipiert ist; genau das geschieht bei der Entscheidung über die Frage, ob die Bundestagswahl von 2025 neu ausgezählt werden muss: In erster Instanz entscheidet darüber der Bundestag, der von der Wahlprüfung betroffen ist. In dieser Phase der Wahlprüfung befinden wir uns.
Die Partei BSW hat die Überprüfung, sprich eine Neuauszählung, beantragt, weil ihr offiziell nur 9529 Stimmen, umgerechnet 0,028 Prozentpunkte, für den Einzug in den Bundestag gefehlt haben. Wenn es nach einer Neuauszählung für den BSW-Einzug in den Bundestag reicht, müssten manche der bisherigen Abgeordneten ihren Platz räumen. Für sie geht es also bei ihrer Wahlprüfungsentscheidung darum, ob sie den Ast absägen, auf dem sie sitzen: Nemo judex in causa sua? Und für den ganzen Bundestag geht es darum, ob die bisherigen Koalitionskonstellationen Bestand haben können.
Bis eine endgültige und rechtskräftige Entscheidung vorliegt, ist die Legislaturperiode schon halb oder fast ganz vorbei
Aber auch dann, wenn eine Neuauszählung keine solchen grundstürzenden Folgen hat, ist sie unendlich wichtig: Es geht um die Legitimationswirkung von Wahlen, es geht darum, Verschwörungstheorien keinen Raum zu lassen, es geht darum, jeden Zweifel auszuschließen, es geht darum, dass der Kern der Demokratie hart und bissfest sein und bleiben muss. Es gibt Staaten, bei denen es automatisch zu einer Neuauszählung führt, wenn die Schwelle zum Einzug ins Parlament um ein halbes Prozent verfehlt wird. In digitalen Zeiten sollte eine Neuauszählung kein Hexenwerk sein.
In Deutschland gibt es keine solchen Automatismen. Hierzulande gibt es ein umständliches Wahlprüfungsverfahren, das der Bedeutung nicht gerecht wird, die Wahlen haben: Das Wahlprüfungsverfahren ist zu kompliziert und es dauert zu lang. Bis eine endgültige und rechtskräftige Entscheidung vorliegt, ist die Legislaturperiode schon halb oder fast ganz vorbei. Das heißt: Das Wahlprüfungsverfahren hat nicht die Befriedungswirkung, die es haben soll. Derzeit ist das Verfahren zweistufig und damit langwierig: Dem Bundestag steht bei Einsprüchen das Erstüberprüfungsrecht zu. Dieser erstinstanzlichen Zuständigkeit des Parlaments folgt in der zweiten Instanz das Bundesverfassungsgericht. So ist es im Grundgesetz seit 1949 geregelt.
De Erstzuständigkeit des neuen Bundestags führt dazu, dass das Verfahren schwerfällig und zeitlich mit größerer Verzögerung anläuft: Erst muss die Konstituierung dieses Bundestags abgewartet werden; die Einsetzung der Ausschüsse – auch des Wahlprüfungsausschusses – erfolgt erst nach Bildung der Bundesregierung, und die kann sich bei schwierigen Koalitionsverhandlungen hinziehen. Dann muss zunächst dieser Wahlprüfungsausschuss beraten und entscheiden, danach der gesamte Bundestag. Gegen dessen Votum kann schließlich Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden. Das Ganze kann, wenn es blöd läuft, so lang dauern, dass die ergehende Entscheidung nur noch deklaratorische Bedeutung hat, weil die Legislaturperiode schon abgelaufen oder am Ablaufen ist.
Die Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, eine von Jura-Professoren der Goethe-Universität Frankfurt/Main in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts herausgegebene Fachzeitschrift, konstatiert deswegen, das Wahlprüfungsverfahren sei „ein einziger rechtsstaatlicher Skandal“. Hans Meyer, der Staatsrechtler und spätere Präsident der Humboldt-Universität Berlin, hat das dort vor dreißig Jahren geschrieben: Das Wahlprüfungsverfahren verdiene die Kennzeichnung als „Wahlprüfungsverhinderungsverfahren“. Kein anderes Element des demokratischen Verfassungsstaats sei in Deutschland stärker aus der Zeit gefallen als das der Wahlprüfung, urteilt auch Winfried Kluth, Professor für öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es gibt nur wenige Staatsrechtler, die sich positiv zum geltenden Wahlprüfverfahren äußern. Es stelle sich auch die Frage, so sagt es Sophie Schönberger, Professorin für öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, „in welchem Maße Wahlen noch die Überzeugungskraft haben, demokratische Legitimation zu stiften“.
Es wäre sinnvoll, in erster und einziger Instanz das Bundesverfassungsgericht entscheiden zu lassen
Aus der Zeit gefallen war das Prüfungsverfahren schon vor 75 Jahren, als es ins Grundgesetz geschrieben wurde – als Kombi-Modell. In Artikel 41 Absatz 1 heißt es: „Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestags.“ Und in Absatz 2: „Gegen die Entscheidung des Bundestags ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig.“ Der Absatz 1, der die Zweistufigkeit der Prüfung eröffnet, hatte schon damals seinen Sinn und Zweck verloren: Er stammt aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie, als man zu Recht meinte, dass das Parlament und nicht die der Krone verantwortliche Verwaltung oder Justiz die Wahl überprüfen sollte. Die Erstzuständigkeit des Parlaments zur Wahlprüfung, die damals aus Gründen der Selbstbestimmung eingeführt wurde, schützt aber heute vor allem die Interessen der Parteien, die bei der zu überprüfenden Wahl erfolgreich waren. Es wäre deshalb sinnvoll, ja überfällig, die Zweistufigkeit zu streichen – also den direkten Zugang zur Justiz zu eröffnen und in erster und einziger Instanz das Bundesverfassungsgericht entscheiden zu lassen. So ähnlich ist es heute schon im Land Berlin geregelt, dort entscheidet bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus erst- und letztinstanzlich der Landesverfassungsgerichtshof.
Eine Instanz, die für zügige Klarheit darüber sorgt, ob eine Wahl neu ausgezählt werden muss (oder ob es sonstige korrekturbedürftige Fehler gibt), ist wichtig für die Infrastruktur der Demokratie. Wenn künftig einzig und allein das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet, wird das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Einhaltung der demokratischen Spielregeln ersichtlich gestärkt.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 20.11.2025 in der Süddeutschen Zeitung.