Vor genau 33 Jahren geschahen die rassistischen Verbrechen von Mölln, in der Folge wurde das alte Asylgrundrecht entsorgt. Daran erinnert der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“, der derzeit in siebzig Städten gezeigt wird.

Von Heribert Prant

Der Dezember steht vor der Tür; es beginnt die Zeit der Weihnachtsmänner und der Nikoläuse. Ein besonders bitteres Nikolaus-Erlebnis ist jetzt 33 Jahre alt, es gehört ins Jahr 1992. Davon handelt ein Film, der jetzt in siebzig Städten der Bundesrepublik gezeigt wird. Er heißt „Die Möllner Briefe“ und erinnert an ein Verbrechen gegen migrantische Familien, das heute vor genau 33 Jahren geschah. Der Film erinnert daran, wie Staat und Gesellschaft auf dieses rassistische Verbrechen reagierten, bei dem am 23. November 1992 drei Mitglieder der Familie Arslan von Neonazis ermordet wurden: Die Schwester, die Cousine und die Großmutter von Ibrahim Arslan starben bei dem Brandanschlag von Neonazis auf das Haus Ratzeburger Straße 8 in Mölln. Ibrahim Arslan, eine Hauptfigur des Films, war damals sieben Jahre alt, er überlebte das Attentat, weil seine Großmutter, bevor sie selber verbrannte, noch ein nasses Bettlaken über ihn warf.

Im Mittelpunkt des Films steht nicht der sogenannte Nikolaus-Kompromiss, mit dem die Politik auf das Verbrechen von Mölln reagierte und mit dem damals das alte Asylgrundrecht abgeschafft wurde. Im Mittelpunkt stehen die vielen berührenden Beileids- und Solidaritätsbriefe aus der deutschen Bevölkerung an die Familie Arslan, es sind fast tausend. Es sind dies Briefe voller Mitgefühl und Sympathie für die Opfer, darunter viele Bilder, die Kinder gemalt haben: „Von Anneke für Ibrahim Arslan“ steht auf einem. Es sind auch Briefe mit Hilfsangeboten darunter, einem liegt ein Zwanzig-Mark-Schein bei. Das Besondere und das Bedrückende daran ist: Die vielen, vielen Briefe haben die Adressaten nie erreicht. Sie wurden nicht zugestellt, die Verwaltung der Stadt Mölln hat sie einbehalten und archiviert.

Der Dokumentarfilm der Regisseurin Martina Priessner begleitet den damaligen Jungen, den heute vierzigjährigen Ibrahim dabei, wie er drei Verfasserinnen der Briefe aufsucht, um sich bei ihnen zu bedanken; er hat erst vor ein paar Jahre von der Existenz der Briefe erfahren. Die Regisseurin begleitet ihn bei seinen Fragen an die Behörden, sie begleitet ihn bei seinen Versuchen, bei den Repräsentanten der Stadt Mölln zu erfahren, warum man die Opfer damals nichts von Solidarität aus der deutschen Bevölkerung hat spüren lassen.

Auf manchen dieser Briefe stand als Anschrift zwar nur „An die Familien der getöteten türkischen Mitbürger“. Aber es wusste ja jeder und jede in Mölln, wer gemeint war. Die Verwaltung interessierte das nicht. Die Unterschlagung der Briefe und das Abwimmeln der Kritik daran ist bezeichnend. Ibrahim Arslan sagt heute, wie sehr es ihm und seine Familie geholfen hätte, wenn sie die ausgestreckten Hände der Briefschreiberinnen und Briefschreiber gespürt hätten. Die anderen, die bösen, die giftigen Briefe waren damals an die Parteien, sie waren auch als Leserbriefe an Zeitungsredaktionen gerichtet – sie fanden ihr Echo.

Die Kampagne gegen das Asylrecht tobte schon seit Jahren. Als die rechtsradikale Partei „Die Republikaner“ 1989 im Fernsehsender Freies Berlin in einem Wahlkampfspot, unterlegt mit der Musik aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“, gegen Ausländer hetzte, als sie daraufhin bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 7,5 Prozent der Stimmen für sich gewann, reagierte die politische Öffentlichkeit entsetzt. Ein Teil der etablierten Politik war aber nicht schuldlos: So oft hatte sie von Flüchtlingen, Migranten und Ausländern nur im Katastrophenjargon gesprochen, vom „Dammbruch“ geredet, von der „Ausländerschwemme“, von den „Flüchtlingsfluten“. Selbst eine christliche Wochenzeitung hatte schon 1989 getitelt: „Auch Humanität muss ihre Grenzen haben.“

Und so kam es dann auch kurz nach dem Attentat von Mölln 1992: Am Nikolaustag dieses Jahres wurde einer der schandbarsten Kompromisse der bundesdeutschen Geschichte geschlossen. Dieser Kompromiss wird wegen des Tages, an dem er beschlossen wurde „Nikolaus-Kompromiss“ genannt. Das klingt nach guten Gaben, nach Punsch und Besinnlichkeit. Doch dieser Beschluss der damaligen Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, SPD und FDP war weder gut noch besinnlich.

Er postulierte das Ende des alten Asylgrundrechts; er strich den Artikel 16 Absatz 2 aus dem Grundgesetz, der das Asylrecht seit dem Jahr 1949 uneingeschränkt garantiert hatte; er ersetzte ihn durch einen sehr langen, sehr verquollenen Artikel 16a, der aus dem Asylgrundrecht ein Grundrechtlein machte. Den Weg zur Grundgesetzänderung hatte auch Oskar Lafontaine geebnet, als Kanzlerkandidat der SPD im ersten Bundestagswahlkampf nach der deutschen Einheit; er hatte schon damals, 1990, die Grundgesetzänderung propagiert.

Der Schutz der Lichterkette

Diese Grundgesetzänderung war dann die unmittelbare politische Reaktion auf die ausländerfeindlichen Verbrechen vom November 1992 in Mölln und zuvor schon in Rostock-Lichtenhagen; diese Änderung wurde sozusagen im Schein der dort angezündeten Häuser vollzogen: Die Parteien hatten sich des Terrors gegen Ausländer und Flüchtlinge nicht anders zu erwehren gewusst als mit der Änderung des schon lang verketzerten Grundrechts. Den Flüchtlingen wurde, um sie angeblich zu schützen vor den dadurch vermeintlich besänftigten Flüchtlingshassern, der grundrechtliche Schutz entzogen. An dem Tag, an dem dies beschlossen wurde, demonstrierten in München 400 000 Menschen gegen den Ausländerhass – die Münchner Lichterkette war die erste große Lichterkette in der Demonstrationsgeschichte der Bundesrepublik.

Am 26. Mai 1993 wurde dann im Bundestag mit Zweidrittelmehrheit das bisherige Asylgrundrecht gestrichen. Drei Tage später, am 29. Mai 1993, kamen bei einem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc in Solingen-Mitte fünf Menschen türkischer Abstammung ums Leben; 17 Menschen erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der damalige Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“ Die SPD wollte damals ein Einwanderungsgesetz mit klaren Immigrationsregeln als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Zustande kam dann, sehr viel später, erst im Jahr 2004 ein ziemlich poröses und unzulängliches Gesetz, das „Zuwanderungsgesetz“ genannt wurde.


 

Newsletter-Teaser