Die evangelische Kirche diskutiert angesichts des Konflikts in der Ukraine über ihre Ethik und die Grenzen des Gewaltverzichts. Es geht um die Kraft der Hoffnung.
Kriegstreiber und Kraft zum Frieden: Glaube und Religion waren und sind in Gegenwart und Geschichte beides. Religion ist bis heute oft Schmiermittel für den Krieg, siehe die russisch-orthodoxe Kirche; sie so zu missbrauchen ist eine Todsünde. Religion kann, soll und muss eine Lehrmeisterin für den Frieden sein. Das ist ihre Aufgabe, das ist der Seinsgrund von Religion. Die Kirchen in Deutschland haben das unter dem Eindruck der Gräuel zweier Weltkriege mühsam, aber deutlich erkannt. Aber diese Erkenntnis muss gelehrt und gelebt, gepredigt und geglaubt werden und zwar inmitten der Kriege und Bedrohungen im Jahr 2025.
Die evangelische Kirche versuchte das gerade wieder und diskutierte auf ihrer Synode in Dresden ihre Denkschrift über das Konzept des gerechten Friedens. Sie dachte nach über Psalm 85: Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen – oder aneinandergeraten. Da gibt es die Gruppen, die völligen Gewaltverzicht wollen: „Jesus ruft dazu auf, dem müssen wir folgen; also kein Militär und keine Gewalt.“ Die andere Position sagt klar: „Du musst auch mit Gewalt vor Gewalt schützen, auf dass Frieden überhaupt eine Möglichkeit hat, sich zu entwickeln.“ Aber selbst diese Position täte sich schwer, den Preis des Westfälischen Friedens für 2026 an die Nato und ihren Generalsekretär Mark Rutte zu verleihen, wie das soeben die Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe getan hat. Das ist ungefähr so, als würde man die Metzgerinnung mit dem großen Vegetarierpreis auszeichnen.
Eine Zeitungsüberschrift vor einiger Zeit lautete jubelnd: „Endlich Aufrüstung“. Es ist zum Gruseln, wenn militärische Aufrüstung als Ideal, als Ziel und als finale Problemlösung beschrieben wird. Dazu fällt einem ein, wie der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker schon 1957 vor einem Schutz durch atomare Abschreckung gewarnt hat: „Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“ Dass dieser Tag im Ukrainekrieg sein könnte – diese Angst entspringt nicht einem katastrophischen, sondern einem realistischen Geschichtsdenken. Das wäre Endzeit und Zeitenwende, das wäre das Ende des eurasischen Kontinents.
Die Denkschrift der evangelischen Kirche bricht nicht mit der Friedensethik
Es ist verhängnisvoll, wenn nur noch vom Krieg und von der Aufrüstung die Rede ist. Die Frage, die Bertrand Russell und Albert Einstein gestellt hatten, lautet: „Wollen wir die Menschheit abschaffen oder den Krieg?“ Schon lang waren Kriege nicht mehr so virulent, so omnipräsent und so gefährlich wie heute. Daher nimmt die neue Friedensdenkschrift Pazifisten weiterhin wichtig. Das zeigt bereits die jahrelange und breit angelegte innerkirchliche Diskussion, die ihr vorausging. Anders als Grätenspucker der Denkschrift nachsagen, bricht sie nicht mit der bisherigen Friedensethik, orientiert sie sich weiter am Leitbild vom gerechten Frieden. Sie hält sich aber unter den schockierenden Erfahrungen von Butscha und Al-Faschir, der Gewaltorgie der Hamas und dem grausamen Geschehen in Gaza daran, dass der Gewaltschutz für die Opfer die Bedingung der Möglichkeit eines gerechten Friedens ist. Sie verabschiedet sich deshalb von einem dogmatischen Pazifismus, beharrt aber auf einem pragmatischen: „Kern evangelischer Friedensethik ist der Primat der Gewaltfreiheit. (…) Am Primat der Gewaltfreiheit werden sich alle individuellen, gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen messen müssen.“ Gewaltfreiheit und zivile Konfliktbearbeitung, wo es nur geht. Es kommt darauf an, ob man diese Aussagen beim Wort nimmt – oder ob sie wie dekorative Ornamentik behandelt werden und damit das Schicksal des Friedensgebotes des Grundgesetzes teilen.
Ich setze auf die Kraft der Hoffnung. Ich wünsche mir wie die protestantische Friedensethik eine Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen: „Eine verantwortungsvolle Rüstungspolitik darf nur in vernetzten Strukturen erfolgen, die in sich die Chance auf Abrüstung bergen.“ Ich wünsche mir eine Welt ohne Atomwaffen. Wenn Journalisten und Wirtschaftsvereinigungen zu Bellizisten werden, verkennen sie ihre Aufgabe. Es ist Aufgabe des Journalismus und der zivilgesellschaftlichen Kräfte in der Demokratie, die Wege zum Frieden zu suchen und zu gehen. Das Streiten darüber, wo diese Wege sind und wie man sie geht – das gehört dazu. Sicherheit allein im Militärischen zu wähnen, ist eine grandiose Verirrung.
Als Immanuel Kant schon ein alter Herr war, schrieb er 1795 seine Schrift, die „Zum ewigen Frieden“ heißt. Der Philosoph lehrt darin, dass der Frieden kein natürlicher Zustand ist, sondern dass er gestiftet werden muss. Wer stiftet? Wo sind die Mutigen? Friedenstiften ist keine laute, keine lärmende Angelegenheit. Und Europa als Friedensstabilisator ist keine Reminiszenz, sondern eine Zukunftsnotwendigkeit. Die historische Leistung der EWG, der EG, der EU war es, die Feindschaften von gestern zu entfeinden; heute gilt es, die Feindschaften von heute zu entfeinden. Und die Kirchen können und sollen ihren Beitrag dazu leisten.
Moskau gehört zu Europa, wie Mariupol und München
Das ist angesichts von Krieg und Gewalt schwer vorstellbar. Aber das Nachdenken über eine Friedensordnung in Europa jenseits des Krieges ist unverzichtbar. Es beginnt mit dem Gedanken, dass Moskau zu Europa gehört – so wie München, Mariupol, Madrid und Marseille. Die Suche nach Frieden, nach einer gesamteuropäischen Friedensordnung kann und darf deshalb nicht als sinnloses Unterfangen betrachtet werden – schon deswegen nicht, weil andere Wege so gefährlich sind, dass sie an ein Zeitenende führen können.
Die apokalyptischen Reiter sind heute atomar bewaffnet. Deshalb brauchen wir ein neues System der Befriedung. Deshalb brauchen wir alle Fertigkeiten, die Frieden stiften können. Ich wünschte mir, wir hätten nicht nur ein Verteidigungsministerium, sondern auch ein Pazifismusministerium.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 13.11.2025 in der Süddeutschen Zeitung.