Das Konzept der Bundesregierung hat zwei große potenzielle Gegner: das Bundesverfassungsgericht und den Vatikan.
heißen; es wird nun „neue Grundsicherung“ genannt. Die Regierung Merz hat es so beschlossen. Sind CDU und CSU der Meinung, man müsse sich den Bürgerstatus erst durch Leistung wieder verdienen? Die mit Verve geforderte Namensänderung legt das nahe. Die Zahlungen sollen künftig schneller und drastischer als bisher gekürzt und in krassen Fällen sogar völlig gestrichen werden können. Das Vorhaben genießt in der Bevölkerung einige Zustimmung, weil es gelte, den Leistungsempfängern wieder Beine zu machen. Die Union hat es verstanden, den Zorn auf eine objektiv geringe Zahl von Totalverweigerern und Leistungsmissbrauchern zu generalisieren; und so wurde die ursprünglich solidarische Stimmung für Hilfeempfänger und deren Kinder ins Negative und zum Teil ins Aggressive gedreht. Diese Verdrehung ist der destruktive, giftige Kern der monatelangen Diskussionen, die nun in die Abschaffung des Bürgergeldes münden.
Das neue Vorhaben von Kanzler Merz hat aber zwei große potenzielle Gegner: Gegner eins ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das mit seinen Hartz-IV-Urteilen Leitplanken gesetzt und 2010 ein Grundrecht auf „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ geschaffen hat. Gegner zwei ist der Papst in Rom. Sein erstes Lehrschreiben, 53 Seiten lang, heißt „Dilexi te. Über die Liebe zu den Armen“, und es hat seinen eigenen Charme, dass es am selben Tag erschien wie das in der Berliner Koalition ausgehandelte Konzept einer sanktionsangereicherten Grundsicherung – nämlich am 9. Oktober. Klar, der Papst bezieht nicht Stellung gegen das konkrete Gesetz der Regierung Merz, aber er bezieht Stellung gegen den liberalistischen Geist, in dem es geschrieben wurde. Leo setzt das Programm von Papst Franziskus fort, der ein geplantes Schreiben unter demselben Titel vor seinem Tod nicht mehr hatte erstellen können. Was für ein Kontrast zu den christlichen Parteien in Deutschland: Die Haltung zu den Armen und Hilfebedürftigen könnte unterschiedlicher nicht sein. Die C-Parteien appellieren an das entschlossene Misstrauen, der Papst appelliert an die entschiedene Solidarität der Gesellschaft.
„Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“: Das waren die Worte, für die Franziskus massiv kritisiert worden war
Leo kritisiert Strukturen, die die Ungleichheit zwischen Arm und Reich fördern, und attackiert sogar, in Anlehnung an seinen Vorgänger, die „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“; das waren die Worte, für die Franziskus massiv kritisiert worden war. Franziskus wie Leo meinen nicht die soziale Marktwirtschaft, sie meinen den radikalen Kapitalismus: Dessen Schwächen sind nicht nur die menschlichen Schwächen seiner Manager, sondern strukturelle Schwächen. Leo wie Franziskus zitieren den Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos aus dem Altertum; das ist nicht Nostalgie, sondern Teil einer Jahrtausend-Weisheit: „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.“ Das verleitet internationale Finanzkapitalisten zu Gelächter; und das lässt jene Ökonomen in Deutschland den Kopf schütteln, die die Sicherung unbegrenzter Eigentumsakkumulation für den Inhalt der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes halten; die finden derzeit bei der CDU/CSU einiges Gehör, zumal dann, wenn es um die Erbschaft- und Vermögensteuern geht.
Die christliche Soziallehre hatte vor längerer Zeit eine feste Heimat in den C-Parteien. Es geht und ging dieser Lehre darum, die Welt nicht nur mit den Augen derer zu betrachten, die in Zürich, Frankfurt, London oder New York Betriebswirtschaft studiert haben, dann in einen Bankenturm oder bei Blackrock eingezogen sind und von dort aus die Welt mit ihren Finanzinstrumenten vermessen. Zur Armutsbekämpfung gehören in dieser Soziallehre wesentlich mehr als nur Mildtätigkeit und Barmherzigkeit, dazu gehört auch Solidarität als soziales Rechtsprinzip. So hat es in Deutschland der große Sozialwissenschaftler und Theologe Oswald von Nell-Breuning gelehrt; sein Konzept der solidarischen Ökonomie wird zu den geistigen Wurzeln der CDU und CSU gerechnet, die aber dort derzeit wenig beachtet und geachtet werden.
Der hässlichste Punkt des Merz-Konzepts: Von den Sanktionen sind häufig Kinder betroffen
Die Armen zählen für den Papst zur Mitte der Gesellschaft. Das ist eine Aussage, die mitten in die deutsche Diskussion um Bürgergeld und Grundsicherung passt. Sie passt aber nicht in ein Denksystem, das arbeitslose Leistungsempfänger als potenzielle Missbraucher betrachtet. Zu den „Oasen der Würde“, wie das die christliche Soziallehre nennt, gehört der Umgang mit Hilfebedürftigen im neuen Merz-Konzept nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat diese „Oasen der Würde“ mithilfe des von ihm 2010 formulierten Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum geschaffen. Es betont die Grundpflicht des Staates, dieses Minimum zu garantieren und zu konkretisieren. Dieses Urteil weist dem Sozialstaat eine zupackende Aufgabe zu – zumal dann, wenn es gilt, die Kinder von hilfebedürftigen Menschen zu fördern. Und genau das ist der hässlichste Punkt des Merz-Konzepts: Von den Sanktionen, die da ausgeweitet werden, sind ja häufig Bedarfsgemeinschaften betroffen, sprich Kinder.
Karlsruhe leitete das Existenzminimum aus Artikel 1 Grundgesetz ab, der von der Unantastbarkeit der Menschenwürde handelt. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ In Artikel 1 steht nicht, dass nur die Würde des leistungsfähigen, leistungsbereiten und arbeitswilligen Menschen geschützt wird. Da steht auch nicht, dass die Würde des Menschen nur dann geschützt wird, wenn er stets pünktlich zu den Terminen bei der Bundesagentur erscheint. Die Menschenwürde setzt deshalb den Straf-Kürzungen der Sozialleistungen Grenzen, gleich gar einer Kürzung auf null. So hat es das Verfassungsgericht in seiner zweiten Hartz-IV-Entscheidung aus dem Jahre 2019 klargestellt.
Die Erwartung, dass Leistungsbezieher den Staat nicht prellen, ist legitim. Mit seinen beiden Urteilen hat Karlsruhe aber nicht die Faulheit belohnt, wie es die Union dem Bürgergeld vorwarf; es hat vielmehr die Menschenwürde beachtet – die unabhängig ist von Kassenlage und Werturteilen und unabhängig davon, wer Kanzler ist und welche Parteien regieren.
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 16.10.2025 in der Süddeutschen Zeitung.