Am 2. Oktober 1869 wurde er geboren. Der 2. Oktober ist heute der „Internationale Tag der Gewaltlosigkeit“. Sein Rat, keine Gewalt auszuüben, ist keine Aufforderung dazu, passiv zu sein.

Der Internationale Tag der Gewaltlosigkeit, der am 2. Oktober begangen wird, steht sehr einsam in der Landschaft, einsamer denn je. Gewalt, mehr Gewalt und noch mehr Gewalt ist gegenwärtig das Mittel der Wahl, um Ziele durchzusetzen, möglichst skrupellos, möglichst ungetrübt von Völkerrecht, möglichst ohne Rücksicht auf Interessen anderer. Der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt hat Fahrt aufgenommen; und die Logik der harten Antworten und Gegenschläge, das Recht des Stärkeren, ist die Doktrin der Stunde. Die pazifistische Option hat angeblich keine Plausibilität mehr. Daran haben die Friedensnobelpreise, die seit 124 Jahren verliehen werden, nichts geändert.

Mahatma Gandhi hat den Friedensnobelpreis nie erhalten. Er war von Haus aus Rechtsanwalt und gilt als Apostel der Gewaltlosigkeit, ja als der Pazifist schlechthin. Die Vereinten Nationen haben seinen Geburtstag, es war der 2. Oktober (1869), zum Tag der Gewaltlosigkeit erklärt. Die Wurzel seines gewaltlosen Widerstands heißt „ahimsa“, das ist ein Grundprinzip des Hinduismus. Ahimsa meint absoluten und totalen Gewaltverzicht, das physische, psychische, emotionale Nichtverletzen jeglichen Lebewesens, und zwar in allen Situationen. Der gewaltfreie Widerstand Gandhis ist keine Methode oder Strategie. Er ist eine kompromisslose Lebenshaltung und schließt deshalb die unbedingte Bereitschaft ein, dafür Schmerz und Tod zu erdulden. Aus dieser Rigidität schöpft Gandhis Pazifismus seine Faszination und seine Kraft, Massen zu mobilisieren.

Im Ersten Weltkrieg, man höre und staune, tat Gandhi sich in Indien noch als eifriger Rekrutierer von Soldaten für die britische Armee hervor. Er sagte dem Empire zu, 500 000 Freiwillige für das Heer zu gewinnen, und ging mit Feuereifer und Erfolg an die Sache – allen Ahimsa-Bekenntnissen zum Trotz. Dem Sekretär des britischen Generalgouverneurs in Indien berichtete er stolz: „Ich habe den Eindruck, wenn ich euer Hauptrekrutierer würde, würde ich Männer über euch regnen lassen.“ Er glaubte ernsthaft, die Briten würden den Rassismus gegenüber den Indern ablegen, wenn sie deren Opferbereitschaft und Tapferkeit erlebten. Die Briten würden, so Gandhis Illusion, erkennen, dass Indien die Selbständigkeit verdiene.

Beim Salzmarsch wurden Frauen, Kinder, Männer brutal niedergeprügelt

Nach dem rassistischen Massaker der Briten an Männern, Frauen und Kindern in der Stadt Amritsar 1919 schwenkte Gandhi desillusioniert um und setzte fortan auf zivilen Ungehorsam als Mittel des gewaltlosen Widerstands. 1930 führte er den Salzmarsch an – eine Kampagne, um das britische Salzmonopol zu brechen, das mit einer hohen Salzsteuer dazu geführt hatte, dass sich die Inder ihr eigenes Salz nicht mehr leisten konnten. „Ihr dürft nicht einmal eine Hand heben, um die Schläge abzuwehren“, hatte er die Menschen instruiert. Massenweise drangen Demonstranten, auch Frauen und Kinder, in die Salzbecken ein, wo sie von indischen Polizisten und britischen Soldaten erwartet und brutal niedergeprügelt wurden. Mit nichts anderem hatte Gandhi gerechnet, vermutlich sogar damit kalkuliert. Gandhis Strategie der Gewaltlosigkeit zielte darauf, die Empörung des indischen Volkes und der Weltöffentlichkeit über die britische Kolonialmacht hervorzurufen. Gandhi glaubte fest an die Macht der Gewaltlosigkeit. Rigoros und kompromisslos hing er dem Credo an: Der Gewalt darf man nur mit Nichtgewalt begegnen.

In welche Abgründe Gandhi dieses Credo geführt hat, spiegelt sein offener Brief nach dem NS-Novemberpogrom 1938: Er bekräftigt darin auch angesichts des nationalsozialistischen Terrors gegen die Juden, dass Gewaltverzicht und ziviler Ungehorsam die einzige moralische und religiöse Option seien. Der jüdische Philosoph Martin Buber, soeben aus Deutschland nach Jerusalem entkommen, hielt Gandhi in einem eindringlichen Antwortbrief vor: „Wissen Sie, oder wissen Sie nicht, Mahatma, was ein Konzentrationslager ist und wie es darin zugeht?“ Buber war verzweifelt über Gandhis Verharmlosung ausrottender Gewalt und charakterisierte die Gewalt der Nazis als „dämonische Universalwalze“, der man nicht mehr, wie von Gandhi gefordert, durch gewaltfreien Widerstand begegnen könne. Bubers Kritik zeigt die inwendigen Schwächen eines so radikalen Pazifismus. Pazifismus hat verschiedene Aggregatzustände und Härtegrade. Gandhis US-Jünger, der Pastor Martin Luther King Jr., bezeichnete sich selbst als einen realistischen Pazifisten.

Niemand hat das Recht, von anderen zu fordern, die andere Wange hinzuhalten statt zurückzuschlagen. Aber jeder hat für sich das Recht, es zu tun – auch in der Hoffnung, damit den Gewalttäter zu beschämen. Der pazifistische Rat, lieber Gewalt zu erleiden als Gewalt auszuüben, ist keine Aufforderung zur Passivität; er ist der passive Widerstand der Wehrlosen und soll das Verhalten der Gewalttäter verändern. Das ist freilich eine verwegene und bewundernswerte Hoffnung, weil sie erst einmal dem Gewalttäter den Weg der Gewalt erleichtert. Ein Pazifist, der mit der Hoffnung, der Gewalt auf diese Weise den Schneid abzukaufen, sterben kann, ist ein Märtyrer. Sein Pazifismus ist nicht Geschwätz, sondern Aufopferung für den Frieden. Erfolg ist ihm nicht garantiert.

Mahatma Gandhi und Martin Luther King waren solche Märtyrer. Sie entwickelten ihren Pazifismus für Gruppen, die ohnmächtig und unterdrückt nach einem Weg suchen, der Gewalt zu widerstehen; sie entwickelten ihn nicht als Antwort auf kriegerische Konflikte zwischen Nationen. Aber auch da hat er zivilisierende und befriedende Kraft. Das hämische Gerede über den Pazifismus ist schwer erträglich. Es ist unbedingt daran zu erinnern, dass die Rüstungswettläufe vergangener Zeiten mehrmals an den Rand der nuklearen Vernichtung führten – die teils nur durch schieres Glück vermieden werden konnte. Es braucht, dafür steht der Internationale Tag der Gewaltlosigkeit, eine mühsame, komplizierte und permanente Entfeindung. Diese anstrengende und beharrliche Friedens- und Konfliktarbeit geht nicht ohne Menschen, die etwas davon verstehen – nicht ohne Pazifisten also, übersetzt: Friedenmacher. Humanität und Zivilisation brauchen sie unbedingt. Pazifismus bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidensbereitschaft und Augenmaß zugleich.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 25.09.2025 in der Süddeutschen Zeitung.