Mit Donald Trump geht das Reden von der „transatlantischen Wertegemeinschaft“ zu Ende. Aber es reift eine neue Erkenntnis.

Imagination ist in der Psychotherapie eine Methode, die der Bewältigung psychischer Probleme und der Förderung des Wohlbefindens dient. Die imaginative Psychotherapie lehrt, die Vorstellungskraft einzusetzen: Man stellt sich positive Szenarien vor, um Stress abzubauen, Ressourcen zu aktivieren und traumatische Erlebnisse zu bearbeiten. Das Lobpreisen und das Beschwören einer „transatlantischen Wertegemeinschaft“ der Bundesrepublik mit den Vereinigten Staaten haben in diesem Sinne lange gut gewirkt und geholfen.

Das Wohlwollen und die schützende Hand der USA haben dem Nachkriegswestdeutschland nach den Verbrechen des Nationalsozialismus den Weg in die Demokratie und die Rückkehr in die Staatengemeinschaft erleichtert, damit auch das bundesdeutsche Wirtschaftswunder ermöglicht. Wie real, gemeinsam und tragfähig das Wertefundament tatsächlich war, wurde nicht groß reflektiert, die angeblich gemeinsamen Werte wurden nicht lang beleuchtet. Die „transatlantische Wertegemeinschaft“ war ein Synonym für die deutsch-amerikanische Nachkriegsgeschichte, und die Werte-Rhetorik vor allem Ausdruck gemeinsamer strategischer Interessen; im Zentrum stand der Antikommunismus. Und die Bundesdeutschen hatten das wohlige Gefühl, es sich im Haus der Sieger behaglich machen zu dürfen.

An der Spitze der Wertegemeinschaft steht in Trump jetzt ein Mann, der offenbar keine Werte hat

Das Wort von der „Wertegemeinschaft“ ist, zumal in Deutschland, wie ein Bonbon mit einigem Genuss gelutscht worden. Seit Beginn der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump und der höchst irritierenden Rede seines Vizepräsidenten J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 bleibt das Bonbon aber auch einstigen Genusslutschern im Halse stecken. An der Spitze der angeblichen Wertegemeinschaft steht nämlich jetzt in Trump ein Mann, der offenbar keine Werte hat, ein Mann, der ungezogen, ungehobelt und rachsüchtig ist – ein Mensch, so sagt es der Amerikanist Bernd Greiner, an dem „jedes zivilisatorische Bemühen um Charakterbildung spurlos vorbeigegangen ist“. Der Philosoph Jürgen Habermas schrieb über Trumps Auftritte schon vor einiger Zeit, man habe „den Eindruck der klinischen Vorführung eines psychopathologischen Falles“.

Die Zeit der Werte ist vorbei, es ist die Zeit des Allerwertesten. Vor Kurzem, bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen, hat Trump davon wieder eine egomanische Kostprobe gegeben. Wenn man sich die westliche Demokratie und das transatlantische Projekt als eine Glaubensgemeinschaft vorstellt, sie hat sich ja selbst geraume Zeit so geriert, dann erhebt sich die römisch-katholisch anmutende Frage, ob sie womöglich eines Exorzismus bedarf.

Eine antidemokratische Symbiose aus Big Tech und Rechtspopulismus zerstört den politischen Diskurs

In den USA hat Trump die Wahl gewonnen, mit der kräftigen Unterstützung von Elon Musk, der seine Plattform X, vormals Twitter, ganz offen und radikal zur politischen Instrumentalisierung nutzt und der in Deutschland der AfD Schützenhilfe zukommen lässt. Wir erleben, wie eine antidemokratische Symbiose aus Big Tech und radikalem Rechtspopulismus in den USA den politischen Diskurs zerstört, wie Lug und Trug ihn vergiften und wie klassische Medien und die Verfechter von checks and balances kein Mittel dagegen finden. Trump agiert so antidemokratisch, ungeschlacht und autokratisch, wie es so noch kein anderer US-Präsident getan hat. Er verbreitet Desinformationsnarrative und Gemeinheiten. Er wirft anderen das vor, was er selbst praktiziert, nämlich aggressive Lügerei und Drohungen. Er denkt und handelt wie ein Mafioso. Das Sicherste in der Weltpolitik sind derzeit die Lügen des Donald Trump. Sie sind sicherer als das Amen in der Kirche. Die Weltlage erscheint einem nicht zuletzt deswegen so unsicher wie schon lange nicht mehr. Trump redet die Welt um Kopf und Kragen. Er vergiftet die Rohstoffe der Demokratie – Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung –, also Werte, die zu den Grundwerten zählen.

Weil das so offensichtlich ist, verändert sich auch der Blick auf das angebliche gemeinsame Wertefundament – und man stellt fest, wie groß die Unterschiede in den Gesellschaftsmodellen sind und wie verschieden der Wert von Werten diesseits und jenseits des Atlantiks ist. Die Dominanz und die Bedeutung von Religion in den USA widerstreiten den europäischen Säkularisationsmodellen. Die Anbetung eines unregulierten Kapitalismus in den USA widerstreitet den Modellen der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialpartnerschaft in Deutschland und in Europa. Und die weltweit größte Waffendichte in Privatbesitz, wie sie die USA verzeichnen, widerstreitet dem, was in Europa unter Gewaltmonopol verstanden wird.

„Wir werden nicht auf unseren Knien leben – und ihr solltet es auch nicht“, sagt James Comey.

Umso wichtiger ist ein neu erwachendes antiautokratisches Bewusstsein: In den USA beginnen die Trump-Kritiker und -Gegner, die der Präsident unter Missbrauch der Justiz immer ungenierter strafrechtlich verfolgen lässt, sich mit Verve zu wehren. Zu ihnen gehört der frühere FBI-Direktor James Comey, der selbstbewusst erklärte: „Wir werden nicht auf unseren Knien leben – und ihr solltet es auch nicht.“ Comey & Co., darunter der frühere CIA-Direktor John Brennan, werben dafür, gegen Einschüchterungsversuche aufzustehen. Das heißt: Demokratie braucht Courage! Es braucht den demokratischen Aufstand. Als der Fernsehsender Disney/ABC die Jimmy-Kimmel-Show aus dem Programm nahm, weil sie der Regierung Trump missliebig war und den Sender mit Lizenzentzug bedrohte, revidierte er diese Entscheidung auf gewaltigen öffentlichen Druck hin und holte die Show wieder ins Programm. Sechs Millionen Zuschauer verfolgten die erste Sendung nach der Zwangspause. Demokratie braucht Courage. Sie braucht die Leidenschaft und das Selbstbewusstsein der Demokraten.

In Deutschland gehört es zu diesem leidenschaftlichen Selbstbewusstsein, endlich beim Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die AfD zu stellen. Das Zittern vor der echten oder angeblichen Unsicherheit, ob man mit diesem Antrag auch Erfolg haben wird – es ist einer selbstbewussten Demokratie nicht würdig. Angst vor der eigenen Courage zu haben, führt am Ende schnurstracks in amerikanische Zustände – also zur Erfahrung, wie schnell man mit der Abrissbirne eine Demokratie zerlegen kann. Die Wiederaufbauarbeiten nehmen unendlich viel mehr Zeit in Anspruch.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 01.10.2025 in der Süddeutschen Zeitung.