Die Gesellschaft muss ihren Frieden machen mit der Demenz. Daher: Pflege die alten Menschen so, wie du selber in zwanzig oder dreißig Jahren gepflegt werden willst!
Von Heribert Prant
Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen; er ist das Band, welches das Leben umspannt. Zu diesem Respekt gehört es, dass Alte auch in Ruhe ver-rückt werden dürfen. Das rückt die Gesellschaft gerade.
Am kommenden Sonntag ist Welt-Alzheimertag. Wer der Demenz begegnet, begegnet der eigenen Angst. In einer Welt, die nur auf Leistung getrimmt ist, bleibt man allein mit dieser Angst. Es ist die Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren; es ist die Angst davor, umfassend angewiesen zu sein auf andere; es ist die Angst davor, nicht mehr zu wissen, wer man selber ist.
Schöne neue Welt?
In die Lebens- und Arbeitswelt der noch nicht ganz Alten passen die ganz Alten nicht. Viele Familien nehmen es gleichwohl auf sich, ihre Alten zu Hause zu pflegen. Diese Pflege in der Familie verlangt ungeheure Anstrengung; früher hat man Aufopferung dazu gesagt. Eine bezahlbare Haus-Betreuung durch Fachkräfte gibt es eigentlich nicht. Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, hat noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen. Sie hat nicht die Kraft, die Menschen in Würde alt und lebenssatt werden zu lassen. Eine Gesellschaft ist aber verrückt, wenn diese Alten in dieser Gesellschaft nicht in Würde ver-rückt werden können.
Im Jahr 2050 werden in Europa mehr als 70 Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. Bei Aldous Huxley, in seiner „Schönen neuen Welt“, wird beschrieben, wie alte Menschen in Kliniken entsorgt werden. Sie werden abgeschaltet wie verrostete Maschinen. Kinder werden, so schildert es Huxley, in diese Entsorgungskliniken geführt und dort mit Schokolade gefüttert, damit sie sich an den Vorgang des Abschaltens gewöhnen und akzeptieren lernen, dass das Leben technisch produziert und technisch beendet wird. So verändert eine pervertierte Marktökonomie das Leben: Sie betrachtet es als Produkt, das der Herstellung und Entsorgung bedarf. Ist das die Gesellschaft, in der man leben will?
Es geht um die, die ein Leben lang gerackert haben und es jetzt nicht mehr können. Sie gelten durch ihre bloße Existenz als Infragestellung dessen, was für normal gehalten wird: Leistung, Fitness, Produktivität. Womöglich ist ein System, das nicht in der Lage ist, sich um die Alten zu kümmern, selber dement. Was ist notwendig? Notwendig sind nicht einfach Kostenmanager, betriebswirtschaftliche Abrechnungen, Gewinn- und Verlustrechnungen. Notwendig ist die Auferstehung von Nächstenliebe und wärmender Fürsorge; das System muss aus seiner Hölle gezogen werden. Jeder zweite 85-Jährige in Deutschland lebt allein, ist allein. „Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebest und es dir wohl ergehe auf Erden.“ So steht es im vierten der Zehn Gebote. Das klingt antiquiert, ist es aber nicht. Dies Gebot fordert eine Gesellschaft, in der Alte nicht Angst haben müssen, in die Wüste geschickt zu werden. Nicht selten erinnert die Pflege der Alten weniger an Pflege als an eine Bestrafung dafür, dass sie so alt geworden sind.
Das Wort Lebensabend schmeckt zu oft bitter
Aber pauschale Verurteilung wird der Fürsorglichkeit auch nicht gerecht, die es sehr wohl in vielen Heimen gibt. Es gibt dort nicht wenige Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die den Titel Held des Alltags verdienen, weil sie mit einem Einsatz arbeiten, der höchsten Respekt verdient – aber trotzdem die Malaisen des Systems nicht ausgleichen kann. Diese Malaisen haben damit zu tun, dass Heimbetreiber mit der Betreuung von Menschen, die ihr ganzes Leben lang etwas geleistet haben, an deren Lebensende noch Geld verdienen wollen; deshalb wird in Altersheimen kräftig rationalisiert, deshalb verdient Pflege oft das Wort Pflege nicht, sondern das Wort Lebensabwicklung. Und das Wort Lebensabend, das einmal etwas Behagliches hatte, ist heute eines, das bitter schmeckt. Deutschland ist ein Land, das die besten Maschinen der Welt bauen kann, aber dieses Land ist bisher nicht in der Lage, ein anständiges Pflegekonzept zu entwickeln. Daran wird sich nichts ändern, solange Pflegeheime wie Profitcenter betrieben werden, die Gewinne abwerfen müssen.
Warum gibt es keinen Aufstand? Warum gehen so wenige alte Menschen für eine bessere Pflege auf die Straße? Dieter Hildebrandt, der im Jahr 2013 verstorbene Kabarettist, hat, als er selber schon deutlich über achtzig Jahre alt war, auf diese Frage die einfache und gar nicht komische Antwort gegeben: „Die einen können es nicht mehr – und die anderen wollen nicht daran denken, dass sie am nächsten Tag selbst betroffen sein könnten.“
Der gerontologische Imperativ
Es ist in dieser Gesellschaft viel von Integration und Inklusion die Rede. Gilt das für alte Menschen nicht? Inklusion heißt Anerkennung, Respekt und Wertschätzung. Mit den Alten geschieht das Gegenteil: Sie werden ausgeschlossen aus ihrer bisherigen Welt. Die Konzentration auf das Heim-Modell ist teuer und altenfeindlich. Es reißt Menschen aus ihrer Umgebung heraus, statt sie dort so lang wie möglich leben zu lassen. Es ist derzeit leider so: Häusliche Pflege wird nicht belohnt, sondern eher bestraft. Das Geld der Sozialkassen fließt vor allem in die teure stationäre Pflege. Ohne die Familien, die sich um ihre Alten selbst kümmern, wäre die Pflegeversicherung bankrott. Wer Pflege in der Familie nicht selbst erlebt hat, hat wenig Ahnung davon, was dieses Kümmern bedeutet. Pflege zu Hause zahlt die Familie – durch Gehaltseinbußen oder Finanzierung einer Billigkraft aus dem Ausland, die offiziell als Haushaltshilfe firmiert.
Alternativen zum Heim? Da wäre eine staatlich kräftig unterstützte Pflege in der Familie. Da wäre die Betreuung und Begleitung im Quartier, also im Stadtviertel, in einem Mehrgenerationenhaus, in einer gewohnten und vertrauten Umgebung, in der die sehr alten Menschen nicht separiert werden, sondern mittendrin sind. Gedächtnisverlust und Hilfsbedürftigkeit sind Zustände an den Rändern des Lebens; sie gehören zum Menschsein dazu. Es gilt deshalb für Politik und Gesellschaft ein gerontologischer Imperativ: Pflege die alten Menschen so, wie du selber in zehn, fünfzehn, zwanzig oder dreißig Jahren gepflegt werden willst!
Hilfsbedürftigkeit gehört zum Menschsein
Die Gesellschaft muss ihren Frieden machen mit der Demenz, die eher Schicksal ist als Krankheit, nämlich eine bestimmte Variante des Lebens im hohen Alter. Nicht die Demenz ist neu, sondern die Zahl der dementen Menschen; früher starben die meisten, lang bevor sie der Demenz nahekamen. Der demente Mensch ist kein Halbmensch; er ist Mensch mit Leib, Seele, Sinnlichkeit, Kreativität, Emotion – und eben Demenz. Demente Menschen können viele Dinge nicht mehr, die sie einst gekonnt haben. Aber sie können nicht selten Dinge, von denen keiner bisher gewusst hat, dass sie sie können, nicht einmal sie selbst: Sie können singen, Musik machen, sie können malen. Auch eine demente Mutter kann trösten; es kann trösten, sie einfach zu sehen, ihre Stimme zu hören, einen herzhaften Kuss von ihr zu bekommen, von ihrer entwaffnenden Emotionalität getroffen zu werden, ihre Freude zu spüren, dass man da ist.
Es geht darum, demente Menschen nicht wie Kleinkinder zu behandeln, sondern sie weiter als Erwachsene ernst zu nehmen. Das wird nicht nur den Alten guttun, sondern auch den Kindern. Es wird die Kindheit der Kinder verändern, wenn sie in einer solchen Gesellschaft aufwachsen – in einer Gesellschaft, in der das Menschsein nicht am Lineal von Ökonomie und Leistungsfähigkeit gemessen wird. Hilfsbedürftigkeit ist dann keine Störung, die behoben werden muss, sondern sie gehört zum Menschsein. „Kinder sind unsere Zukunft“ – das hört man in der Politik jeden Tag. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehört: Auch die Alten sind „unsere Zukunft“, denn unsere Zukunft ist das Alter.