Die heute von Merz und Söder geprägte Debatte über die angebliche Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats hat einen sehr, sehr langen Bart. Den Sozialstaat verächtlich zu machen, ist Ausdruck von Überheblichkeit und Dummheit.

Von Heribert Prant

Diese Kolumne beginnt mit einem politischen Rätsel. Dieses Rätsel handelt vom Sozialstaat und seiner Finanzierbarkeit. Also: Von wem stammt diese Rede? Von Friedrich Merz? Von Markus Söder? Vom Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände? Und wann wurde sie gehalten? Die Rede geht so:

„Die sozialen Aufwendungen sind jetzt auf einer Höhe angelangt, die die Wirtschaft auf Dauer in diesem Umfang nicht tragen kann. Aller Voraussicht nach werden die Leistungsanforderungen ständig weiter wachsen, während die Einnahmen einen Stillstand, teilweise ein Absinken zeigen. Grundlegende Reformen sind daher nötig. Die Lage der Finanzen der öffentlichen Haushalte dürfte eher einen erheblichen Abbau der von diesen bisher gezahlten Zuschüssen erfordern als eine weitere Erhöhung oder Vermehrung gestatten. Will man die Sozialversicherung im weitesten Sinn auf die Dauer für ihren wahren Zweck erhalten, muss man sich entschließen, schnell mit kräftiger Hand an eine Reform der Leistungen zu gehen, mit dem Ziele, den wirklich Bedürftigen und Notleidenden auch weiterhin in ausreichendem Maße zu helfen. Dagegen darf man sich nicht scheuen, alles nicht unbedingt Erforderliche, selbst wenn es wünschenswert sein mag, rücksichtslos zu streichen.“

Inhaltlich passen die Darlegungen gut zu Merz oder Söder, die etwas gestelzte Sprache lässt einen freilich dann daran zweifeln. Die stammen in der Tat nicht aus einem Fernseh-Sommerinterview, auch nicht von der Pressekonferenz nach der Klausurtagung der Regierungskoalition in Würzburg. Sie sind schon alt, sehr alt. Sie sind ein Beweis dafür, wie lang der Bart der Debatte schon ist, die derzeit unter der Überschrift „Soziales streichen“ geführt wird.

Die zitierten Sätze stammen aus dem Jahr 1929, sie stehen in einem Vortrag, den der Major a. D. Adolf von Bülow damals bei der Tagung der Gesellschaft für Sozialreform gehalten hat. Die Rede könnte, sprachlich etwa aufgepeppt, heute genauso gehalten werden. Seitdem Lorenz von Stein 1854 zum ersten Mal von einem sozialen Staat gesprochen hat, seitdem dieser große preußische Staatsreformer das Risiko von Krankheit und Alter als gesellschaftliches Problem erkannt und gefordert hat, dass der Staat dieses Risiko solidarisch absichern soll – seitdem stehen die sozialen Aufwendungen bei der Wirtschaft und der wirtschaftsnahen Politik im Verdacht, zu teuer zu sein.

Der Sozialstaat ist ein Schutzengel für jeden Einzelnen

Dieser Sozialstaat hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er zunächst dafür gesorgt, dass Kriegsinvalide und Flüchtlinge einigermaßen leben konnten. Dann hat er dafür gesorgt, dass auch Kinder aus kärglichen Verhältnissen studieren konnten; eines dieser Kinder wurde der siebte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder. Der Sozialstaat ist eine Art persönlicher Schutzengel für jeden Einzelnen. Er kann dafür sorgen, dass der Alltag für alle einigermaßen funktioniert. Ihn verächtlich zu machen, ist nicht Ausdruck von cooler Selbstverantwortung, sondern von Überheblichkeit und Dummheit.

Ohne den Sozialstaat hätte es nicht nur einmal gekracht in der Bundesrepublik. Der Sozialstaat hat soziale Gegensätze entschärft. Ansonsten könnte man nicht auf immer noch ziemlich hohem Niveau darüber klagen, dass es diesem Land schon einmal besser gegangen sei. Ohne diesen Sozialstaat hätte es wohl auch keine Deutsche Einheit gegeben. Der Sozialstaat ist Heimat. Beschimpfen kann ihn nur der, der keine Heimat braucht. Und den Abriss oder Teilabriss wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort aber dann noch sehr lange wohlfühlen würde, ist fraglich.

Ein Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung wird immer wieder als ökonomische Offensive gepriesen. In jüngerer Zeit, es war so vor dreißig Jahren, hatte die FDP damit begonnen, die Wörter „Gemeinwohl“ und „Sozialstaat“ zu Pfui-Wörtern zu erklären und mehr soziale Kälte als Rezept zur Gesundung von Volkswirtschaft und Gemeinwesen zu empfehlen – es ging um die Entverantwortlichung des Staates. Das Programm dafür war der marktradikale „Karlsruher Entwurf – für eine liberale Bürgergesellschaft“, der dann 1997 in Wiesbaden als Parteiprogramm verabschiedet wurde. Dieses Programm galt bis 2012, es hat die FDP als Partei nicht unbedingt beflügelt, aber das gesellschaftspolitische Denken auch außerhalb der Partei durchaus beeinflusst – „neoliberal“ nennt man dieses Denken. Ich nenne es Sozialstreicherei.

Beim Zugriff auf „die Reichen“ geht es nicht um kleine Millionäre

Solches Denken hat dazu geführt, dass sich der Staat weigert, die Verwandlung des Staats in einen Lohnsteuerstaat zu korrigieren – der Sozialstaat wird durch die Steuern finanziert, die auf das normale Arbeitseinkommen erhoben werden. Die Lohnsteuer gewann immer mehr Gewicht, der Beitrag der Gewinn- und Kapitaleinkünfte sank und sinkt, eine Vermögensteuer wurde und wird gar nicht mehr erhoben. Ihre Wiedereinführung schafft es trotz aller Finanznöte nicht mehr auf die politische Agenda.

Es wurde und wird immer wieder behauptet, das Bundesverfassungsgericht habe die Vermögensteuer verboten. Das stimmte nie, und das stimmt heute schon gleich gar nicht mehr. Es war so: Das höchstrichterliche Urteil, das kein Verbot verhängt hat, aber dafür in Anspruch genommen wird, stammt aus dem Jahr 1995. Das Gericht hat damals aber nicht die Vermögensteuer für verfassungswidrig erklärt, sondern nur deren Erhebungsmethode – und setzte dem Gesetzgeber eine Frist zur Änderung bis Ende 1996. Die Regierung Kohl scherte sich jedoch nicht um diese Fristsetzung, sondern setzte die Erhebung der Vermögensteuer gleich ganz aus: Ins Steuergesetz wurde der Passus eingefügt, dass die Vermögensteuer von 1997 an „nicht mehr erhoben“ werde.

Dabei ist es bis heute geblieben – obwohl das Verfassungsgericht in einem Beschluss vom 18. Januar 2006 den viel stärkeren Zugriff auf sehr Reiche und Superreiche nahegelegt hat. Es geht beim Zugriff auf „die Reichen“, nicht um die sehr Wohlhabenden, auch nicht um die kleinen Millionäre, sondern um die Superreichen. Die Schätzungen, wie viel das bringt, variieren stark – von Summen im dreistelligen Milliardenbereich bis zu solchen im niedrigen einstelligen Bereich. Aber selbst wenn die Steuer netto nicht so arg viel bringt, hat sie zwei positive Effekte. Erstens: Das Gerechtigkeitsgefühl der Leute wird bedient. Zweitens: Es wird endlich einmal erhoben, welche Vermögen die Superreichen überhaupt haben.

Nach wie vor gilt die Mahnung des verstorbenen großen Rechtsdenkers und ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Sicherung unbegrenzter Eigentumsakkumulation ist nicht Inhalt der Eigentumsgarantie.“ Ungleichheit darf also ein gewisses Maß nicht übersteigen. Ein Sozialstaat, der auch von einer Vermögensteuer finanziert wird, kann dazu beitragen.

 


 

Newsletter-Teaser